Archive for 2006
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Tuesday, October 24th, 2006Zu den Zeichen muss etwas hinzu kommen. Die Turingmaschine sieht einen Lese- und Schreibkopf vor und eine Tabelle. In der Tabelle ist festgehalten, wie die Maschine auf Zeichen reagiert. Diese Vorstellung kann sich im Kopf festsaugen. Man beginnt über seineeigene Wahrnehmungen nachzudenken und unterscheidet dann zwischen dem Zeichen, dem Zustand, in dem man ist und wie sich der Zustand durch das Zeichen ändert. Es kommt etwas hinein, trifft auf etwas im Inneren, ändert das Innere und das ändert dann etwas Aussen.
Gherasim Luca, der von inneren Kamelen schreibt, switcht in dem Gedicht Bumerang zwischen der Beschreibung innerer Zustände und der Beschreibung der äusseren Umgebung. Der Sofabezug sieht aus wie ein Stoppelfeld, im Inneren dürsten Kamele. Im Unterschied zur Turing-Maschine sind die im Gedicht beschriebenen Übergänge nicht strikt determiniert. Ich frage mich, ob Gherasim Luca noch so zwischen Wahrnehmungen und Empfindungen switchen könnte, wenn er sich des Mechanismus einer Turing-Maschine bewusst würde.
Offensichtlich läuft in meinem Inneren eine Maschine, die bestimmte differenzierte Wahrnehmungen gleich behandelt. Gleich behandelt sie Nachrichten über Urananlagen im Iran (“Es ist nur einige Gramm hier, einige Gramm da”), dem Monatsverdienst eines Fremdenführers in Simbabwe (100 Dollar offizieller Kurs/19,1 Dollar Schwarzmarktkurs), der seine Kinder aus Geldmangel von der Schule nehmen muss und Anzeigen hoher Uhrmacherkunst. Ich nehme diese Nachrichten wahr, mein Zustand ändert sich nicht. Meine Maschine ist nicht darauf ausgelegt, auf diese Wahrnehmungen differenziert zu reagieren.
Nachdenken muss ich allerdings bei der Bemerkung, dass die behelfsmässigen Häuser in Simbabwe nun mit grösseren Abstand als früher voneinander gebaut werden. Das ist eine Vorsichtsmassnahme, mit der die Bewohner der Hütten auf die Zerstörung der Behelfssiedlungen durch die Regierung reagieren. Der grössere Abstand zwischen den Hütten erlaubt es, bei einer Polizeiaktion “zumindest einige Gegenstände in Sicherheit” zu bringen. Diese Mitteilung löst bei mir den Prozess des Nachvollzugs aus. Ich stelle mir vor, dass die Bewohner einer Hütte die Zerstörung der Nachbarhütte vorausschauend als mögliches Signal verwenden, um ihre Hütte zu räumen, bevor das Zerstörungskommando auch sie erreicht. Der räumliche Abstand bedeutet einen zeitlichen Vorsprung, der zur Sicherung von Gegenständen genutzt werden kann.
Die Mitteilung verblüfft mich, löst in mir die gedankliche Tätigkeit der Relationsbildung zwischen Raum und Zeit aus. Messen bedeutet nach Nikolaus von Kues, dass eine Relation gestiftet wird. Das ist die zentrale Voraussetzung für das Erkennen. Was aber leistet hier Erkenntnis? Sie macht mir bewusst, dass ich unbeholfen Anteil nehme am Elend anderer, derer in Simbabwe zum Beispiel, von denen die NZZ Nr. 247, S.7 berichtet.
Meine Überlegungen gleichen dem Elend so wenig, wie ein Quadrat einem Kreis gleicht.
NZZ
Monday, October 23rd, 2006In den wolkenschweren Himmel ragt wie der gedachte Mast des Flosses der Medusa die Stange einer behelfsmässigen Unterkunft. Ihre Wände bestehen aus Stoffetzen und Papiersäcken mit der Aufschrift USA. Die Säcke enthielten vermutlich Lebensmittel, ein Wort mit C ist auf den Säcken undeutlich erkennbar. Welches amerikansiche Lebensmittel, das in Säcken geliefert wird, beginnt mit C? Verteilen die USA Couscous, oder enthielten die Säcke etwas anderes als Lebensmittel? Vor der Unterkunft steht ein Kanister mit der Aufschrift, die kaum als unesr (ein r, das spiegelverkehrt gesetzt ist) lesbar ist. Der Kanister steht zwischen zwei Frauen, die in die Kamera von Daud Yussuf/Reuters schauen. Ein Mann duckt sich zwischen Baumresten auf dem rotsandigen Boden. Auch Kinder sind zu sehen: “Somalische Flüchtlinge bauen im Grenzgebiet Kenyas eine behelfsmässige Unterkunft”. NZZ Nr. 246, S. 3.
und, selber am Verdursten, die Kamele in uns zur Oase geführt.
Monday, October 23rd, 2006Tagesworte aus: Bumerang – Ein Gedicht von Ghérasim Luca. In: Schreibheft 67, S. 17.
– II oder I – –
Monday, October 23rd, 2006Mögliche Darstellung der Zahl Drei. Wie kommt zum Einen und zum Anderen ein Drittes? Ein Alphabet mit nur zwei Zeichen muss zur Darstellung der Drei ein Zeichen wiederholen. Die Drei unterscheidet sich damit von der Eins und der Zwei, wenn man ein binäres System wählt. Diesen schlichten Befund möchte ich aufwerten, indem ich an die Schlange und Jesus Christus erinnere. Das gnostische religiöse Denken unterscheidet zwischen einer guten Welt und einer schlechten, zwischen einer geistigen und einer materiellen Welt. Zwischen beiden Welten bewegt sich die Schlange. Sie ist das Dritte, das die beiden Welten – die eine gute und die andere schlechte – miteinander in Verbindung setzt. Maschinen sind wie diese Schlangen konzipierbar. Sie verkörpern etwas Geistiges (ein Naturgesetzt, eine Regel), damit nehmen sie Raum zwischen der Welt der Sinne und der Welt des Verstandes ein, sie sind Zwitterwesen. Das erlaubt, sie als Schiffe zu verstehen, die zwischen Küstenstädten Verbindungen herstellen oder auch – wie das Schiff des Theseus – die Verbindung der Athener mit den Göttern ihrer Stadt bekräftigen. Solche Schiffe bestehen aus laufenden und stehenden Gütern. Am Bild des Schiffes gefällt mir, dass es mit Vagheiten wie schwankenden Winden und Strömungen umgehen muss. Ich wünsche mir, dass Maschinen als Schiffe denkbar werden, in denen poetische Formen verwendet werden. Davon verspreche ich mir, dass das Schiff flexibel in unsicheren Verhältnissen navigieren kann. Denn ich habe Mühe, der Turingmaschine die Navigation in schwierigen Gewässern anzuvertrauen. Allerdings reizt der Gedanke, mit der Maschine die eigene Seele zu entdecken. Sie wird dann selbst zu einem Reich, das sich zwischen harten und weichen Grenzen ausbreitet.