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Canto XVII ?/07

Thursday, March 8th, 2007

Das Verschwinden eines 10-jährigen Knaben am 28. Februar 2002 ist Gegenstand eines Films, der im indischen Gliedstaat Guyarat verboten ist. Der Gliedstaat ist – so teilt Nr. 40 mit – fest im Griff von Hindu-Fanatikern. In diesem Gliedstaat ist der 10-Jährige vor fünf Jahren verschwunden und zwar im Chaos von Mordgeheul, blitzenden Schwertern und brennendem Hausrat.

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Canto XVI ?/07

Wednesday, March 7th, 2007

Hilft unser Empfinden weiter? Verändert unsere Wahrnehmung von Newman`s Cantos unser Verhältnis zum täglichen Leid? Ich denke: Ja. Denn Singen heisst Spiegeln. Im Gesang der Farbflächen wird die Aussenwelt eingefangen und reflektiert. Newman arbeitet in den Cantos eine Spiegelkunst aus, verstanden als Kunst, individuell die Welt zu reflektieren. Begreifen wir uns als individuelle Reflektoren, werden wir bescheidener und zugleich werden wir universeller.

Aus: Printversion: Journal für  Kunst, Sex und Mathematik 2

Warten

Wednesday, March 7th, 2007

Wir sind in der Zeit. Dann fallen wir aus der Zeit, fallen in eine Zeit der Ungewissheit und des Wartens. Ein Zug verspätet sich, ein Flugzeug kann nicht starten, unser Zeitplan gerät aus den Fugen und wir haben plötzlich eine Zeit, die wir nicht wollten.

Canto XVI ?/07

Monday, March 5th, 2007

Die Gewalt drängt, sie erreicht uns täglich in den Zeitungen und Fernsehnachrichten. Zeitweilig erschüttert sie uns, meistens irritiert sie uns, überwiegend nehmen wir ihr Referat achselzuckend zur Kenntnis. Beschäftigen wir uns mit einzelnen Meldungen wie zum Beispiel in Nr. 40, dann investieren wir Zeit, die uns für die alltäglichen Geschäfte fehlt. Wir spüren, dass wir den Boden unter den Füssen verlieren, wenn wir den Nachrichten folgen. Sie sprechen eine klare Botschaft. Es kann nicht so weiter gehen; dennoch wollen wir, dass es weitergeht und vertagen unsere Beschäftigung mit den Botschaften und den Konsequenzen für unser Leben.

Wir trennen ab, teilen auf, orden zu. Ein Teil unserer Zeit gehört den Nachrichten, ein anderer Teil unseren Aufgaben, ein weiterer Teil unserer Entwicklung. Newman stört diese Aufteilung. Ihn stört, dass Kritiker die Gliederung seiner Gemälde und Lithographien in unterschiedliche Farbflächen als Aufteilung, als Trennung, begreifen. Den weissen Streifen, den er auf den Lithostein klebt, um beim Druck ein weisses Band (Zip) zu erzeugen, sah er nicht als Trennmittel, nicht als Mittel, das eine Fläche in drei Flächen teilt, sondern als Mittel um „Onement“ zu realisieren.

“Onement” bedeutet, dass die Farbflächen miteinander eine Einheit bilden. Diese Einheit bildet sich vermittelts der Unterscheidung. Können wir die Nachrichten von Toten als Zips verstehen, als Teile unserer Existenz? Ja, aber dabei kann es nicht bleiben. Sie sind nicht Teil im Sinne eines oberflächlichen ästhetischen Arrangements von Welterfahrung, sondern üben eine Funktion aus. Sie artikulieren die Zumutung der Welt, lassen die Zumutung der Welt erfahrbar werden.

Diese Zumutung ist ein Anlass von Newman Gesängen. Seine Cantos sind Aufforderungen, dass auch wir singen und mitteilen, dass wir im Aufruhr sind. Nebenbei sei bemerkt, dass Newman mit dem Titel des „onement“ ein Konzept der modernen Mathematik anspricht, des Intuitionismus. Der spricht von der Zwei-Einheitlichkeit des Denkens. Sie beruht auf der Einsicht in Wechsel von vergangenen und gegenwärtigen Momenten, die jegliche menschliche Erfahrung als zeitlich begreift.

Canto XV ?/07

Saturday, March 3rd, 2007

Die Annäherung an Newman`s Gesänge erschöpft sich. Sie erschöpft sich und bleibt bei einer Aufforderung stehen, unsere Einbildugunskraft und Empfindungfähigkeit angesichts der täglich gemeldeten Toten zu verändern. Was hilft es schon, wenn wir hier die Meldung wiederholen: Beim Absturz eines amerikanischen Militärhelikopters nordwestlich von Bagdad sind alle 7 Soldaten an Bord ums Leben gekommen … Irakische Augenzeugen berichteten, der Helikopter sei ins Trudeln geraten, nachdem er vom Boden aus unter Beschuss geraten sei (Nr. 32)? Wir nehmen das zur Kenntnis, stellen uns den Helikopter vor, der gegen den Boden schmettert. Wir hören, weil wir das aus Filmen kennen, die Ansagen des Piloten in der Kabine. Dann sehen wir später die Fahnen, die auf Särgen ausgebreitet sind. Wir sehen trauernde Angehörige, die hofften, dass diese Soldaten ihre Situation langfristig verbessern. Wir stellen uns die Anträge vor, die nun gestellt werden müssen, um Ansprüche der Hinterbliebenen durchzusetzen … Stellen wir uns auch vor, dass der Absturz eine Hütte vernichtet, Eigentum beschädigt, das nicht ersetzt wird? Personen, die vielleicht helfen wollen, aber für Attentäter gehalten werden, stellen wir uns vor? Wir stellen uns die Attentäter vor, die Verbindungen, die solche tragbaren Flugabwehrwaffen in der hasserfüllten Bevölkerung verteilen. Stellen wir uns das Geld vor, das diese Waffen kosten, die Verdienste, die mit diesen Waffen erwirtschaftet werden, stellen wir uns vor, dass dieses Geld Familien im Irak zur Verfügung gestellt wird? Die Vorstellungen, ja, diese Vorstellungen lassen sich entwickeln. Newman ermuntert uns, unser Vorstellungsvermögen zu testen. Was wäre, wenn es diese Lithographien nicht gäbe, wenn das Geld, das ihr Druck gekostet hat, wenn auch die Zeit, die der Künstler vom Sommer 1963-April 1964 anders investiert worden wäre, zum Beispiel in kriegsverhindernde Massnahmen der sechziger Jahre?

Dann gäbe es eine Anlaufstation für Monaden weniger. Und damit gäbe es auch eine Hoffnung, dass sich Menschen ändern, weniger. Newman spricht auch vom „Cry“, dem „Aufbegehren eines Individuums“. Diese Möglichkeit aufzubegehren, die Notwendigkeit zu sehen, den Willen zu entwickeln, aufzubegehren, halten Newman`s Gesänge wach. Warum ist diese Möglichkeit wertvoll?

Sie ist wertvoll, weil sie einen Willen ausdrückt, einen Willen, der sich nicht gegen andere wendet, kein Leid erzeugt, sondern die Möglichkeit, etwas zu wollen signalisiert. In der Kunst ist es möglich, etwas zu wollen, seinen eigenen Handlungen ein Ziel zu setzen, das sich selbst genügt. Die Gesänge genügen sich selbst und breiten zugleich Möglichkeiten des Fühlens aus, die ohne künstlerischen Willen verborgen blieben. Die Gesänge zeigen, dass menschliche Tätigkeit, auch wenn sie aus einem Impuls des Aufruhrs und des Aufbegehrens entspringt, nicht Anderes und andere bespringen und niederringen muss, sondern für sich eine Form findet. Diese Form ist vielfältig, weil sie den Impuls enthält und zugleich die Möglichkeit Impulse in Expression und Intensität, nicht in Agression und Brutalität, zu wandeln. Das ist etwas. Es zeigt, dass Mensch, sich über den Ausdruck und die Form, Freiräume erwirken kann.

Die Weisse

Saturday, March 3rd, 2007

„Das Werk ist niemals vollendet. Es beläßt uns in dem Unvollendeten, worin wir sterben. Dieser weiße Anteil ist es, den wir nicht belehnen, sondern anzunehmen haben. Wo wir heimisch werden müssen. Anzuerkennen: die Leere, das Nichts, die Weiße. Was wir auch schaffen, es liegt hinter uns. Heute bin ich – erneut – in dieser Weiße, ohne Worte, ohne Wörter, ohne Gesten. Was noch zu vollenden bleibt, ist stets nur das, was sich gern vollendet gibt: die Wüste, in die unsre Ohnmacht uns zurückweichen läßt. Sich einreden, daß das Ende – der gesuchte Schluß unmöglich ist. Trost für die meisten unter uns, gewiß. Not jener Irrgänger, die vom Unbekannten behext sind.
Grenzen, überschritten in ihren Grenzen: unsere Alltäglichkeit.
Die äußersten Enden werden uns stets verborgen bleiben.”

[Edmond Jabès, Das kleine unverdächtige Buch der Subversion. München 1985: Hanser]
(Danke an Karin)

Quelle: http://www.die-grenze.com/worte_grenze/reise11.htm

Canto XIV ?/07

Friday, March 2nd, 2007

Tiefes Blutrot, dann Braunrot, dann wieder tiefes Blutrot. Rot ist die Farbe des zwanzigsten Jahrhunderts: die rote Sonne Japans, gemischt mit dem Braun der Nazis und das Rot der kommunistischen Bewegungen, Rot der Hoffnung und Rot des Leids des zwanzigsten Jahrhunderts.

Einem Sänger könnte der Sänger Newman seine Gesänge gewidmet haben, einem Sänger, der vorsichtig die Zwischentöne der Literatur anschlägt, dem Sänger Louis Zukofsky. Zukofsky singt über den Einfall der Nazis in Paris. Newman hat es bei einem roten Gesang nicht belassen. Zunächst hatte er geplant, die Cantos mit dem 14. Blatt abzuschliessen. Doch dann habe ihm die Arbeit mit den roten Drucken so gut gefallen, dass er beschloss, 18 Gesänge zu drucken.

Es wäre auch zu wenig, mit Rot zu enden, dann wären wir entmutigt. Dann müssten wir den Kopf in den Sand stecken und uns weiterhin mit den blutigen Meldungen abfinden, wie den 191 getöteten Personen und 1800 Verletzten der Bombenanschläge auf die Madrider Nahverkehrszüge vor knapp drei Jahren.

Nr. 39 meldet, dass die mutmasslichen Attentäter nun vor Gericht stehen. Ihre gerechte Verurteilung ist notwendig, doch ebenso notwendig ist, dass unsere Fragen weitergehen und wir nicht einfach, den rotblutigen Vorhang vor das Geschehen ziehen. Der Gesang, Trauergesang, Gesang der Hoffnung darf nicht enden.

Weisse

Friday, March 2nd, 2007

Und Gott sagt zum Menschen:
„Ich bin von Deinen Schöpfungen, die despotischste, die besessenste und die rätselhafteste nach dem Verb“
Und der Mensch sagt:
„Bin ich das Verb?“
Und Gott sagt:
„Ich bin die Befragung des Verbs.“
Und der Mensch sagt:
„Bin ich das Verb, das in Frage steht?“
Und Gott sagt:
„Dass Dein Hauch, oh Weisse, die bevorzugte Beschriftung im schwarzen Marmor Meines Worts sei. Von dem, was während des Tages fiebrig geschrieben wird, erlauben uns die Tafeln der Nacht die Lektüre“.

Edmond Jabès

Muttererde

Thursday, March 1st, 2007

“Jede Geste, jedes Zeichen, all das, dessen ständige Offenbarung die Zeichen sind, setzt eine Trennung voraus, einen radikalen Abstand von der Identität: als Identität des Selbst mit der eigenen Muttererde, mit der eigenen Sprache, mit sich selbst.” Massimo Cacciari: “Die Weisse und die Schwärze”. In: Röller, Nils: Migranten.

Hinter dem Ofen hocken

Thursday, March 1st, 2007

“Nun habe ich noch keinen klugen Mann kennengelernt, der nicht gern erfahren hätte, welchen tieferen Sinn diese Geschichte hat und was sie an guten Lehren bietet. Sie wird freilich, wie ein tüchtiger Turnierritter, nicht versäumen, zu fliehen und zu jagen, zu weichen und anzugreifen.” Das Verhalten der Geschichte richtet sich nach den Eigenschaften der Lesenden, der wiederum aus der Geschichte nutzen zieht und sich nach ihr richtet: “Wer sich in all diesen Wechselfällen auskennt, den hat sein Verstand recht geleitet. Er wird nicht hinter dem Ofen hocken, nicht irregehen und sich auch sonst gut in der Welt zurechtfinden. Unredliche Gesinnung gegen andere führt ins Feuer der Hölle und zerstört alles Ansehen wie Hagelwetter. Die Zuverlässigkeit solcher Gesinnung hat einen so kurzen Schwanz, dass sie schon den dritten Stich nicht mehr abwehren kann, wenn im Walde die Bremsen über sie herfallen“ Parzival, I, 1: 5f.