Gilbert: An instrument*

[ZB Magnet 2] William Gilbert, De Magnete (London: Petrus Short, 1600), Zentralbibliothek Zürich, Alte Drucke und Rara, XVI.28, p. 192.

* An Instrument for showing by the action of a Loadstone the degree of dip below the horizon in any latitude (Tranlation, p. 285.)

D.: Ein Atomkraftwerk havariert, erleidet Schiffbruch.
R.: Setzen wir also bei den Metaphern an, die unser Denken über Atomkraftwerke, über Kräfte lenken. Was heisst ausser Kontrolle?
M.: Gilbert stellt mit Hilfe der Terrella fest, dass die Erde magnetisch Kontrolle ausübt („naught can be held aloof form the magnetic controll of the earth“). Die Terrella ist eine Erfahrungshilfe, sie führt zu der Erfahrung der magnetischen Kontrolle der Erde.
J.: Ein Kontrollorgan ist etwas anderes. Die Terrella ist eine Wahrnehmungshilfe …
R.:  Sie lenkt die Gedanken über die Erde, so wie der Leitgedanke des Schiffs, des Schiffsbruch die Wahrnehmung der Katastrophe von Fukushima
H.: Die Situation in Fukushima ist ausser Kontrolle.
J.: Kunst und Dichtung bleiben bei ihrem gewöhnlichen Tagesgeschäft, Ausstellungen, Steuern, und die Headfarm bloggt wie gewohnt, zum Glück haben wir jemanden, der uns erinnert: Die Situation in Fukushima ist ausser Kontrolle.
D.: Retinal übersetzt sich die Furcht einzelner auf der Website:http://nuclearanxiety.artisopensource.net/ A global realtime discourse on nuclear energy. Scared of nuclear power? Are you up for it? Discover what the web is saying.http://nuclearanxiety.artisopensource.net/
R. In der Zeitung steht, dass „Bewohner“ sich nun für zwei Stunden in der Sperrzone um Fukushima aufhalten durften. Was ist eigentlich ein Bewohner einer Sperrzone? Er ist ein Ehemaliger. Eine Bewohner ohne Möglichkeit, in seiner Wohnung zu wohnen.
H.: Die Situation in Fukushima ist ausser Kontrolle.
M.: Schleif Dir eine Terrella! Sie sollte einen Durchmesser von 10-11 Zentimetern haben und aus einem unbeschädigten Magnetstein bestehen. Schneide dann einen Holzklotz mit einem Durchmesser von 30 Zentimetern zu. In den Holzklotz schleife einen Halbkreis ein, in dem die Terrella bis zur Hälfte versenkt werden kann. Sie sollte sich in dem Halbkreis leicht bewegen lassen. Dann zeichne auf die Terrella einen Kreis, einen Meridian also. Dazu musst Du vorher die beiden Pole …
R.: Lieber werde ich Bauer in Thun oder Schreiner in Konstanz.
D.: Besser bauen wir ein Atomkraftwerk nach.
M.: Die beiden Pole der Terrrella findest Du, indem Du Eisenstäbchen an ihr entlang führst. Dort, wo die Eisenstäbchen senkrecht stehen, dort sind die Pole. Die Verbindungen zwischen Polen sind Meridiane. Einen solchen Meridian zeichnest Du dort auf der Terrella, wo diese dem äussersten Rand der Einbuchtung des Holzklotzes am nächsten kommt.
R.: Können wir nicht über Atome schreiben? Diese Bauanleitungen irritieren mich. Sie erinnern mich an Vorschriften, Gesetze.
D.: Oder an die freundlich beharrlichen Bitten der Tanz-, Fitness- und Yogalehrer.
M.: Diesen Meridian teilst Du in vier Teile, die aus 90 Graden bestehen. Setze den Grad Null bei einem Pol an. So erhältst Du auf der Terrella einen Meridian, der in viermal neunzig Grade eingeteilt ist. Wobei zweimal der Grad Null auf die beiden Pole fällt und zweimal der Grad Null auf den „Aquätor“ der Terrella fällt.
D.: Das klingt nach Ausstellungsaufbau.
M.: Dann zeichnest Du auf den Holzblock eine Gradeinteilung, und zwar analog dazu. Analog ist ungenau. Der Kreis oder die vier Quadranten, die Du auf den Holzblock zeichnest, sind Verlängerungen der Quadranten auf der Terrella.
J.: Sobald der Holzblock wackelt und die Terrella bewegt wird, wird es schwierig.
H.: Die Situation in Fukushima ist ausser Kontrolle.
D.: Vielleicht ist sie ausser Kontrolle geraten, weil sich die Messgeräte bewegt haben, weil die Messgeräte veraltet sind, sich aus den Bezugssystemen herausbewegt haben.
M.: Fukushima ist durch den Tsunami ausser Kontrolle geraten.
R.: Weil die Anweisungen, also die Texte, die das Verhalten der Ingenieure und ihrer Kontrolleuere, leiten, nachlässig umgesetzt wurden.
M.: Mir fällt auf, dass Gilberts Abbildung nicht genau seiner Bauanleitung entspricht.
D.: Er zeigt den Holzklotz nicht.
M. Er lässt offen, wo genau die Quadranten auf dem Holzblock aufgetragen werden. Seiner Abbildung folgend, ist nur eine Seitenlinie des Quadranten auf dem Holzblock eine Verlängerung eines Schenkels des Quadranten auf der Terrella, genauer einer ihrer Seitenlinien, oder des Durchmessers/Radius, oder der Gradeinteilung, noch genauer von geometrischen Objekten, die sich mit Hilfe der Gradeinteilung des Meridians auf der Terrella konstruieren lassen.
R.: Er stellt die räumlichen Beziehungen nicht so dar, dass man sie ohne Text verstehen kann.
M.: Dann setzt ein Natel …
H.: Ein Natel oder eine Nadel?
M.: … eine rotierende Nadel, ein Versorium an den Rand der Einbuchtung. Die Nadel soll nicht zu lang sein. Sie darf die Terrella, die in der Einbuchtung lagert, nicht berühren.
D.: M., siehst Du Dir eigentlich ebenso genau die Bilder in unserem Blog an.?
R.: M. spricht über Bilder, wenn Texte zu den Bildern zu finden sind. Der Text ist für ihn das Massgebliche. Die Wahrnehmung des Bildes wird durch den Text gelenkt.
D.: Ich erwarte mir etwas anderes.
H.: Die Situation in Fukushima ist ausser Kontrolle.
M.: Wird die Terrella nun bewegt, dann hebt und senkt sich die Nadel. Wir können zwei Messdaten erhalten: Eine Messung liefert die Gradeinteilung auf der Terrella, eine andere Messung liefert das Steigen und Fallen der Nadel, das anhand der Gradeinteilungen auf dem Holzblock gemessen werden kann. Gilbert bestimmt so die magnetische Inklination. Er verfolgt die These, dass regelmässige runde magnetische Körper die Nadeln regelmässig neigen. Ist der Körper nicht mehr regelmässig, wie der Körper der „Mutter“ Erde, dann werden auch die Neigungen unregelmässig. Die Abweichung der Nadeln vom Nord- oder Südpol sowieso.
D.: Unzählige, sehr viel kompliziertere Experimente oder Beobachtungsanlagen als diese waren notwendig, um Atomkraftwerke bauen zu können. Wieviel und welche Experimente werden notwendig sein, um die Welt von der Belastung durch die Atomkraftwerke wieder zu befreien?
R.: Die Neigungen und Abweichungen menschlicher Subjekte von den Vorschriften, die das Allgemeine oder die technische Anlagen erfordern, die sollten wir messen, bedenken. Die Literatur ist ein globales Archiv.
D.: Nina Canell gibt in den kurzen Begleittexten zu ihren Werktiteln an, welche Voltzahl nötig ist, um ihre Installationen „zum Leben zu erwecken“. (Dieter Rœlstræte, „Nina Canell und Elektrizität“, in: Publikation zur Ausstellung Nina Canell: To Let Stay Projecting As a bit of branch on a log by not chopping it off im Museum Moderner Kunst Stiftung Wien (12.11.2010-30.1. 2011) (Köln: Buchhandlung Walther König, 2010, S. 87).
J.: Wenn R. von einem Archiv spricht, dann beginne ich ein Kontrollorgan zu denken, zu dessen Entstehen die Literatur beiträgt. Die Literatur liefert die Daten über Abweichungen und Neigungen der menschlichen Subjekte. Diese Daten wertet ein Programm aus und baut nach der Auswertung ein durchschnittliches Subjekt, ein Probesubjekt, das überall passt.
M.: Oder umgekehrt, die Welt wird so umgebaut, dass sie zu den Subjekten passt, wo wir bei einem idealen Staat sind und unweit von der Planwirtschaft, die auf Atomkraftwerke setzt.
R.: Ich werde missverstanden – jeder Text wird missverstanden – , deshalb setze ich erneut Medvedev:  „die Künstler versuchten ihre 3% in Geld
zu konvertieren –
und Michail Švarcman, der schellenbehangene russiche Irre,
der in derselben Finsternis herumirrte
und sich mit solchen Irren wie er selbst vereinigte,
erhaschte dort etwas.
Was?
eine Möglichkeit,
die Scherbe eines durchsichtigen Spiegels,
wie ein Stück blutigen Fleischs-
‚die Welt ist durchsichtig’
(überall ist Wasser zu sehen)
Und jetzt müsse in diesem klaren Spiegel
Eine Welt widerscheinen“.
Kirill Medvedev, „3 %“, in:  Schreibheft 76 (2011), S. 143.

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