Tim Zulauf

Meilensteine in Gesellschaft

 

Mit ihren Unterlagen schiebt eine jüngere Wirtschaftsfahnderin eine ältere in deren Büro, so eifrig, dass auch deren gerufenes «Langsam!» nicht bremst. Beschwichtigend bleibt der Älteren nur die Erwartung zu dämpfen. Ihre pumpenden Armbewegungen weisen zum Boden hin, während sie sich hinter ihren Schreibtisch zurückzieht. Die Hand der jüngeren greift derweil hektisch nach Luftzylindern – als suche sie Worte über der Tektonik des gestapelten Papiers. Oder als wolle sie nach einer Tasse fischen. Filterkaffee, das Requisit der Polizeiarbeit, ist aber längst verboten. «Immer noch süchtig nach dem eindeutigen Berufsbild?» fragt die Ältere. Mit Seitenblick überschlägt sie die Beine auf ihrem Tisch, stützt den Oberkörper auf durchgedrückte Arme, und formt ein «N». Gerade so, dass durch den Buchstaben die zwei Bildtafeln im Hintergrund – ‹A, Stein I› und ‹B, Steine II› – nicht mehr zu sehen sind.

 

«Boss. Was machen wir mit dieser Geschichte hier?» Als Fragezeichen stehen zwei Bogen Computer-Ausdruck in die Luft: «Das ist aus demselben Chatroom abgefangen. Ich beobachte diese beiden Trader ja nun seit Wochen. Es müssen dieselben sein. Nur sie haben Zugang – neben mir. Aber auf einmal kann ich nichts mehr entschlüsseln. Ich war mir sicher, die wetten gegen Griechenland, ich war mir sicher, wir hätten die gleich am Wickel – aber jetzt  … »

Die Ältere schaut: «Sieht tatsächlich aus, als wäre das … codiert? Sehr ungewöhnlich. Oder  war das vielleicht doch privat?»

«Ich frage mich eher, wie das zu knacken wäre, beruflich, Boss.  Hören Sie her … » Die jüngere Wirtschaftsfahnderin beginnt, den Chatroom-Dialog vorzulesen.

 

A: Was denken Sie: Was denkt der Sand, wenn ein Stein auf ihm lastet? Wenn er von der Gravitation zermahlen wird, und doch innerlich von ihr gehalten ist?

 

B: Er mahlt sich wohl dem Nichts entgegen. Der Sand, unter der Dominanz eines Steins.

 

A: Die steinige Definition würde er gerne unter sich begraben, genau. Aber er hängt von ihr ab, als Teil von ihr. Als Sand …

 

B: … als Sand… möchte er jedenfalls nicht Staub werden. Verstehe … Während der Stein nicht zugeben mag, dass er, als ehemaliger Schlussstein eines Tempels, Lust an der Last des Findlings hat, unter dem er eingekeilt liegt.

 

A: Ja. Sobald sich im Gebirge ein Felsbrocken löst, der dann jahrhundertelang in einer Zwischengrösse weiterdöst …

 

B: … und der dabei nicht mitbekommt, wie Kontinentalplatten sein Erbe auseinanderreissen.

 

A: Allerdings: Unsere Definitionen halten auf den Objekten nicht. Selbst wenn es Steine sind, zerspringen sie irgendwann und zerreissen unsere Zeichen …

 

B: …  die Länder, die Nationen …

 

A: Aber wäre das nun eine Drohung? Drohen diese Grenzsteine unserer Vorstellungskraft, wir dürften uns in diese Krise nicht weiter einmischen?

 

B: Drohen? Nein. Ich sage nur: Wenn wir weniger selbstbezogen denken würden. Obwohl wir weder wissen, wie das ginge, noch was das wäre, in einer anderen körperlichen Schwere oder magnetisch schwebend zu denken wie ein Stein und damit ausserhalb der für uns relevanten Zeit zu sein – also ausserhalb einer Zeit, die sich in blauen Flecken äussert oder in Knochenbrüchen, die wir unvermittelt verarzten müssen, ohne auf die Gespräche einer stummen Welt zu hören. Wenn wir das könnten …

 

A: Ich kann Ihnen nur schwören, wie sehr ich das wollen würde: Die Grenzen meiner Einfühlung über das Lebendige hinaus zu dehnen. Vielleicht bleibt der Stein dann trotzdem das Ding, das wir am besten werden können – «werfen können» wollte ich schreiben (das war die Autokorrektur ;-).

 

B: Kiesige Abwege beschreiten Sie da – «beschreiben», wollte ich schreiben – auf der Suche nach einer Einheit, auch diesseits der siliziumhaltigen Intelligenz, hier bei uns.

 

A: Der Stein verdankt seinen Namen doch weiterhin der Spanne einer Hand, die ihn halten kann. Als Werkzeug, Keil in der Faust, Instrument zu etwas …  als Trockensteinmauer eines Gebäudes oder als Gefüge von Begriffen, als philosophische Behausung. Zwecks Abgrenzung. Aber ob er da dann dankbar ist, der Stein, darüber wie unsere Hand ihn definiert, und ihn von Sandkorn, Kiesel, Brocken, Felsen, Findling unterscheidet, das darf bezweifelt werden.

 

B: Gut. Da bin ich Ihnen dankbar. Nur warum drohen Sie mit einer Spaltung? Könnte ich denn für Sie nützlich sein, als zertrümmerte Identität, als Geröllhalde?

 

A: Das Gegenteil, meine ich. Sie sollten noch mehr Stein sein wollen, mehr handhabbare Einheit, sollte es irgendwie weitergehen für Sie. Hier bei uns. Es geht um die geschlossene Form. Kein Gebröckel.

 

«Das ist doch eindeutig eine neue Information, Boss. Die Steinbeisser scheinen unter sich, in ihrer Arbeit, geteilter Meinung zu sein. Vielleicht hat ihre Quelle in Brüssel auch geblockt. Das ist keine kompakte Organisation mehr. Aber … was wären deren innnere Anziehungskräfte, frage ich mich, wenn … »

«Ich glaube, Sie haben ganz einfach Daten eines falschen Gesprächs abgezogen, meine Liebe. Überprüfen Sie das. Denken Sie nach. Und raus an die Arbeit.», sagt die Ältere, die plötzlich jünger als die Jüngere wirkt, während sie mit katzenhafter Drehung die Bildtafeln A1 und A2 von der Wand streift und geräuschlos unter den Tisch gleiten lässt: «Es gibt noch viel zu tun.»

«Ich glaube auch, Boss. Ich glaube nur eben auch», flüstert sie, «da sind Leute aus unserer eigenen Abteilung im Spiel. Irgendjemand spielt hier den Stein, als Spielstein … Wenn das der Fall wäre … sprechen sie ihn diesem Chat da vielleicht von … Meilensteinen: Sie planen die Schritte, bis sie dann wirklich zuschlagen. Wenn die Anziehungskräfte der Märkte erst stimmen.»

«Dann könnten wir dieses Internetgespräch gleich auf unsere Abteilung und uns selber anwenden? Drohen Sie mir?» lacht die jetzt Jüngere, schiebt die Ältere hinaus, und betätigt den Reisswolf. «Die Bilder dieser Steine bleiben doch vor allem eins: Ein Widerstand.»

Tim Zulauf

 

Ein Beitrag zum Steintag

Leave a Reply