Siegfried Zielinski
Homo sapiens oder homo sacer, homo ludens, homo artefactus oder homo generator, die derzeit kursierenden Erklärungsmodelle für das Wesen des Däumlings, der wir sind, haben etwas wichtiges gemein: In allen diesen Versuchen, für den Menschen etwas zu bestimmen, was nur ihn als Spezies auszeichne, wirkt sein Körper als Medium. Er vermittelt vom Einzelnen zur Welt des Geistes, des Heiligen, des Spielens, des künstlich Erzeugten wie des Erzeugenden und umgekehrt – von diesen Welten hin zum Einzelnen. Johann Wilhelm Ritter (1776-1810), der Chemiker und Physiker aus Samitz/Samienice/Samitz im heutigen Polen hat diese einfache und archaische Medientheorie mit seinem eigenen Körper zu beweisen versucht und bezahlte dafür einen hohen Preis. Durch die systematischen Experimente im eigenen Körperlabor ruinierte er seine Gesundheit und starb zu einem biographischen Zeitpunkt, an dem für die meisten das Leben erst beginnt. Zwei Grundannahmen waren dabei für Ritter ausschlaggebend:
In der materiellen Welt gibt es nichts rein Statisches. Alles was ausgedehnt ist, oszilliert, ist gemischt, enthält innere Dynamiken und lebt somit. Im Zustand der Schwingung kann es keine Ruhe geben. Ritter hob in seinem Denken und Schreiben nicht nur den Unterschied zwischen Wissenschaft und Poesie, zwischen Text und Bild, sondern in epistemologischer Hinsicht die Differenz zwischen Wissenschaften von lebendigen und toten Dingen auf. Er war Physiko-Chemiker. Seine Wissenschaft vom Leben umfasste das Kunstwerk ebenso wie den Stein als potentielle Gegenstände.
Alle Kräfte haben ihren Ursprung in der Polarität. Sie enthält zugleich das Konzept der Komplementarität. Das Negative und das Positive schließen sich nicht aus, sondern repulsieren gegeneinander oder schwingen miteinander. Das Mikrokosmische des Individuellen vibriert ähnlich zwischen negativer und positiver Spannung wie die Erde als gewaltiger einzelner Planetenkörper und das gesamte Universum. Der Körper des Wissenschaftlers zeigt dies an. Er ist Display und somit ursprüngliches Medium.
Materialistische Medienwissenschaft wurde spätestens um 1800 erfunden.
Aus dem Brief an Oersted:
Quelle: Ritter, J. W.: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1810. Faksimile(nach)druck mit einem Nachwort v. Heinrich Schipperges, Heidelberg: Schneider, 1969.
Ein Beitrag zum Steintag