Rolf Winnewisser
Stein V
mit der Absicht einen Text zu schreiben über und mit einem Meteoriten als wäre es ein Gespräch mit dem Querschnitt durch Buenaventura Fund in Chihuahua Mexiko 1969 begebe ich mich angestossen von den Abbildungen A Stein I und B Stein II im Buch Über Kräfte ins Naturhistorische Museum in Wien auf dem Weg zu den Meteoriten bleibe bereits im ersten Saal der Mineralien vor der Vitrine Archäologie der Gesteine stehen das Auge verliert sich in den vielfältigen Formen der Mineralien ein erstes Innehalten oder Angehalten werden Steine die mich anschauen oder müsste ich den Kreislauf von etwas schaut mich an – ich schaue es an und so weiter durchbrechen und den Blick auf die Zettel neben den Steinen lenken im Ruinenmarmor eingeschriebene ockerfarbene Landschaft mit dem Eingang einer Grotte sehen Seelenschwefel Diamantschildkröte Salzkäfer Fliegenstein Leberblende Forellenstein Erstarrte Explosionen Kubistische Dörfer Kupfer aus der Steiermark mit der unregelmässigen Form die einen prismatischen Körper diagonal durchdringt Mikroskopisch kleine dicht eingelagerte Fluideinschlüsse sind in diesem Quarz vom Kap der Guten Hoffnung phantomartig angeordnet einzelnen mit Gas und Wasser gefüllten Bläschen (Kavitäten) die diese chaotisch anmutende Trübung bewirken sind nur bei sehr starker Vergrösserung sichtbar ein erstes sich Hingeben in das was einen anschaut wird zu einem Stolperstein der Goldklumpen Welcome erinnert mich an den Torso eines Kentaur im Saal der Mineralien verliere ich die Orientierung es ist die Fülle trotz der Ordnung in den Vitrinen weiss ich nicht auf was ich achten soll ob es die Zuordnung ist Formen zwischen klaren kubischen Volumen bis zu haarigen Gewächsen eine schier endlose Skala von Erscheinungsweisen Gelb Rosa Purpur Blau ineinander verschachtelte Volumen Gegensätze Innenlinien Stadtansichten Nervenstränge oder Stadtpläne geheime Treffpunkte Zeichen in der Nähe von Buchstaben im Schriftgranit Sprache der Steine Kräfte die auf die Steine einwirken Kräfte die die Steine besitzen Ereignisse die die Steine in Szene versetzten nach dem Durchqueren der Mineraliensäle betrete ich den Meteoritensaal Formen des Innersten des Beginns Zeugen aus der Frühzeit unseres Sonnensystems lese ich im Buch Meteoriten als am Rande einer Spiralgalaxie eine grosse Gas- und Staubwolke zusammenzustürzen begann kam es durch den Kollaps zu immer schnelleren Rotationen wobei sich im Zentrum die Materie zusammenballte durch die Hitze des jungen Sterns verdampfte der Staub im umgebenden Nebel und kondensierte aus diesen Bestandteilen entstanden die Meteoriten und Planeten Meteoriten sind aus dem Weltraum auf die Erde herabstürzende Stein- und Eisenmassen in einer Abhandlung hielt der Jesuit Domenico Troili Augenberichte fest und deutete den Stein als Auswürfling einer unterirdischen vulkanischen Explosion in der Theorie von Silberschlag zur Entstehung der Feuerkugeln wurden diese als Produkt der Anreicherung von schleimigen oder öligen Dünsten in den oberen Schichten der Atmosphäre erklärt Schnittflächen liegen in den Vitrinen mit ihren Einschlüssen und Innenformen locken sie das Auge zu sehen sind Widmanstättsche Figuren diese Figuren sind das Resultat von Entmischungsvorgängen zwischen nickelarmem Kamazit und nickelreichem Taenit in langsam abkühlenden metallischen Kernen von Asteroiden Flecken und Olivinsplitter die der Venus von Willendorf gleichen was gleicht so schnell einer Figur ohne Umweg über die Vorstellung wenn nicht das was das Auge kennt Strukturen und Abweichungen Rhythmuswechsel Raumgitter durch das das Auge hindurchfällt an gewissen Überschneidungen haben sich weiche figurenähnliche Formen festgehalten eingebettet in die geometrische dreidimensionale Struktur kleine Verdickungen Wesen aus einer anderen Dimension Wurmlöcher die sich um das räumliche Gitter winden sich überschneidende Diagonalen die von vertikalen oder horizontalen parallel geführten unterschiedlich dicken Balken zu einem Gittergerüst gefügt sind diese Komposition erscheint durch scheinbar achtlose Symmetrie wie zufällig entstanden als wäre ein Piranesi und ein Escher bereits beim Bau dieses Gerüstes dabei gewesen Erinnerungen aus dem All dann wieder ist es die Aussenform der Meteoriten die mir auffällt die Beschaffenheit der Oberfläche mit den Ein- und Ausbuchtungen Faltungen und Wölbungen Löcher und Vertiefungen wie eine heftige Erinnerung feine Äderchen auf der Oberfläche Fingerabdrücke als wäre eine Tonmasse mit den Fingern in der Luft geknetet modelliert geworden nicht die Steine sehen sondern die Transformationen in und mit ihnen so wie man sagt die Sonne geht unter und sich dabei etwas ganz anderes denkt die Konturen der Vulkankogel weich schwingende Horizontlinie hinter meinem Rücken der Blick in die Ferne durch das Auge des Malers gedacht ich bleibe stecken bei den Einschlüssen in den Meteoriten mit dem schönen Namen Troiliten den Olivinsteinen und Widmanstädtschen Figuren die schon der Engländer G.Thompson |
bereits ein paar Jahre zuvor entdeckt und beschrieben hat Ein durchlässiges Gerüst durch das der Wind pfeift Allegorie der Vergänglichkeit so wie Musik schon im Augenblick des Erklingens verweht im Flug durch das All geformt kann man hier von einem Fall sprechen ein Fund ist es nicht etwas fällt auf die Erde eine Kollision findet statt chemische Prozesse setzen ein aus einem Meteoriten wird ein Drache was genau ist es das diese Wirkung hervorgerufen hat plötzlich der Gedanke was hat ihn geweckt einen messmerischen Tee trinkend ich könnte im kunsthistorischen Museum die gemalten Bilder Szenen der Mythologie der biblischen Geschichten auf darin vorkommende und dargestellte Steine achten Steine im Vordergrund Felsformationen und andere Steinbrüche Giorgiones drei Philosophen mit dem stufig abgetragenen Fels den abgebröckelten Steinen die eher Nüssen gleichen das Auge mit der Nase scheint in eine der Felsstufen hinein gemeisselt zu sein oder abgetragen und ausgewaschen dass diese Ähnlichkeit aufscheint andere Steine sind amorphe Klumpen oder gleichen einem Brotlaib Steine wie es bei den Mineralien und Meteoriten gibt entdecke ich nicht in der Malerei die Steine im Bild Büssende Maria Magdalena von Orazio Gentileschi ich denke sofort an die drei Steine im Bild Ruhe auf der Flucht von Caravaggio die im Vordergrund unterhalb der übereinander gelegten Zehen des Josephs liegenden drei Steine der spitze und der runde und der aufgeblasene Stein einen Stein zum Sprechen bringen ich gehe durch die enge Gasse bleibe stehen hinter meinem Rücken Schritte die ebenso plötzlich innehalten wie ich selbst die meinen zum Verstummen gebracht ich nähere mich der Brücke so wie andere Sätze schreiben ohne zu merken dass zwischen den Worten die gewählt wurden und dem was die Worte in Bewegung versetzen etwas verloren geht ich komme der Brücke näher ohne sie zu erreichen achtend auf die Umwege in der Nähe der Brücke das Wort Stein wirkt wie ein Frosch im Sprung in den Satz den ich ausradiere um zu sehen wie er ungeschrieben als Gelenk verwendet daran hebelt wie eine Hühnerhaut über meinen Rücken rast vor dem Stockeisen beim Stephansplatz stehend nach den Szenen hinter geschlossener Türe verrät Apollon dem Schmied Vulkan den Ehebruch seiner Frau nach mehrmaligem Durchgang vorbei an den Gemälden stosse ich auf den Turmbau zu Babel von Brueghel ich bleibe stehen plötzlich durchdringen sich die Beobachtungen der Steine und Meteoriten mit diesem Turmbau der Blick schraubt sich von unten links angefangen bei den steinhauenden Figuren die als Repoussoir figurieren hinein ins Gemälde der König und sein Gefolge mit einem Sprung setzt das Auge den Weg fort am Fusse des Felsen in den Eingänge gehauen werden und springt über den aus dem Felsen gehauenen Stufen und den gemauerten Bögen in einer spiralförmigen Bewegung immer höher hinauf eine Wolke wie ein Schnitt durch die Spitze des Turmes mit Akribie und enzyklopädischem Interesse schildert Brueghel eine Unmenge bautechnischer und handwerklicher Vorgänge in der steinernen Aussenhülle vermischt er antike und romanische Architekturelemente Stufen Tore Bogen Fenster gleichzeitig ist es eine über den Felsen gebaute aufgesetzte darüber gestülpte Architektur eine Durchdringung von aufgesetzten und herausgehauenen Formen eine Gleichzeitigkeit von inneren und äusseren Zuständen eines Bauwerkes bereits bewohnte Bereiche und daneben der unbehauene Fels das Unfertige als wohnte der Blick einer Sezierung bei Haut und Knochen Muskel und Fleisch Mantel Kern und Kruste zugleich das führt zurück zu den Meteoriten der Turmbau zu Babel hat eine Ähnlichkeit mit einem Krater was ist es das ihn unterscheidet von der Botschaft aus dem All frage ich mich ich sehe wie es sich dreht verschränkt und öffnet fällt und verknotet haltend und entfaltend transparent machende Überschneidungen Rillen und Falten Lichter und Schatten herausgelöst aus dem Zusammenhang einer Erzählung im Gegensatz zu den Frühwerken ist die Figur fest umrissen durchschaubar monumental und symmetrisch platziert vor Augen gestellt wie der Stein im Kopf Zeitschwingungen im Hirnlabyrinth ich erinnere mich an den Besuch im Narrenturm in Wien Gedanke und Ordnung Pupille der Welt von wo man Ausschau hält ein von Überfällen bedrohter Ort ein Sehen auf etwas hin nicht den Gegner sehen sondern die Taktik vorhersehen er achtet auf etwas anderes als ich achte was auf dem Weg des zu Sehenden passiert freilegen von Verschüttetem ergänzen und rekonstruieren entziffern und übersetzen erschliessen der Ereignisse aus der Vorzeit Prozess der wechselseitigen Transformation in dem das Konstruierte und nicht das Rekonstruierte eine Rolle spielt Stein V oder das Gespräch mit dem Meteoriten Buenaventura der vom Turmbau zu Babel erzählt |
Rolf Winnewisser 2014
Ein Beitrag zum Steintag