Marcus Steinweg: Notiz zur Kraft

Es gehört zur Normalität des Subjekts, die normalen Verhältnisse zu überschreiten. Das ist der Sinn von Kants Formel von der Metaphysik als „Naturanlage“. (12)  Man kann auch sagen: Widernatürlichkeit als Natürlichkeit oder Anormalität als Normalität. Wir bewegen uns im Bezirk des „Menschlichen“, aber es handelt sich um ein Menschliches, das das Unmenschliche nicht ausschließt. Es hält im Gegenteil die Öffnung auf die Inkonsistenz nicht nur der „Humanismen“, sondern aller Ideen und Konzepte offen, die das Eigene des Menschen in der Abgrenzung zum ihm vermeintlich Äußerlichen (oder Uneigentlichen) zu gewinnen trachten, sei es seine Animalität mit allen denkbaren semantischen Konnotationen, sei es seine Tendenz zur aggressiven Selbststrapazierung, die es in Fühlung mit seinem (nicht-äußerlichen) Außen bringt. Offenbar gibt es das Subjekt nur als hyperbolisches Tier. Immer und überall greift der Mensch über sich hinaus. (13)  Er gibt sich nicht mit dem Möglichen zufrieden. Er will das Unmögliche und erschafft so neue Möglichkeiten. Er widersteht seiner Einfriedung in etablierte Begriffe und Realitäten. Er schießt über seine Objektivität hinaus. Die Existenzphilosophien haben seit Kierkegaard darauf insistiert, dass das Reale des Subjekts eine auf abstrakte Konzepte irreduzible Kraft markiert. Philosophie war nie etwas anderes als der Versuch, dem Begrifflosen Begriffe anzumessen, mit den Mitteln einer den Begriff kompromittierenden Erfahrung, sofern man, wenn man eine Erfahrung macht, sie „nicht sofort auf den Begriff bringen [kann] – sonst wäre es gar keine!“ (14)

(12) Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 57, S. 353 (Orig.), Hamburg 1957, S. 119.
(13)  Hierzu hat Sloterdijk bemerkenswerte Untersuchungen vorgelegt: Peter Sloterdijk, Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt a. M. 2001, S. 255-274.
(14) Heiner Müller, Schriften, Werke 8, a.a.O., S. 257.

Vollständiger Text erscheint alsbald unter: Notiz zur Kraft

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