Marcus Steinweg: Notiz zur Kraft
Zum Schreiben – wie zur Kunst überhaupt – gehört der Mut, sich den inkommensurablen Anteilen der Welt zuzukehren. Im aufgeklärten Bewusstsein persistiert ein mythischer Rest, der noch das aufgeklärteste Narrativ seiner Blindheit überführt. Die Aufklärung, die sich weigert, sich über sich aufzuklären, wiederholt „Brechts aufklärerische Pose gegenüber dem Mythos“: „Die vorsätzliche Blindheit für die dunklen Seiten der Aufklärung, ihre Schamteile.“ (8) Zur blinden Kraft des Schreibens gehört also die Einsicht in seine Blindheit. Blindheit erweist sich als Bedingung der Möglichkeit von Sicht. Daher kann Friedrich Kittler – in einem Nietzsche gewidmeten Text – von der „Gnade der Blindheit“ (9) sprechen. Teresias, der Seher, jeder weiß es, war blind.
Vom Denken erwartet man, dass es vom Dunklen ins Licht führt. Das ist das Selbstverständnis der Aufklärung. Ob es sich um Philosophie, Kunst oder Wissenschaft handelt, das 20. Jahrhundert hat diesen Imperialismus des Lichts zu komplizieren begonnen (ein Name dieser Komplizierung ist Dekonstruktion). Nicht um ins Esoterisch-Irrationale zu gleiten, sondern um ein Denken einzuleiten, das der Blindheit des Subjekts mit einem präzisierten Konzept von Aufklärung, Subjektivität und Vernunft Rechnung trägt. „Wenn Aufklärung geschieht, dann nicht als Errichtung einer Diktatur der Durchsichtigkeit […]“, (10) so Sloterdijk. Weder der Durchsichtigkeit noch der Undurchsichtigkeit, da doch jedes Wissen auf die Unwissenheit verwiesen bleibt, wie Transparenz auf Intransparenz und der Sinn auf seine Abwesenheit. „Es ist nicht genug“, sagt Nietzsche in einem Nachlassfragment, „daß du einsiehst, in welcher Unwissenheit Mensch und Thier lebt; du mußt auch noch den Willen zur Unwissenheit haben und hinzulernen. Es ist dir nöthig, zu begreifen, daß ohne diese Art Unwissenheit das Leben selber unmöglich wäre, daß sie eine Bedingung ist, unter welcher das Lebendige allein sich erhält und gedeiht: eine große, feste Glocke von Unwissenheit muß um dich stehn“. (11) Der Philosoph des aktiven Vergessens erweist sich als Apologet einer aktiven Unwissenheit, die man nicht voreilig mit einem reaktiven Irrationalismus verwechseln darf. Nietzsche geht es um die Eingrenzung der Naivitäten der Vernunft- und Wissensreligiosität; er insistiert darauf, dass Wissen nicht alles ist, dass das Unwissen ihm nicht opponiert, dass das Subjekt die Bereitschaft aufbringen muss, seine blinden Anteile in einen erweiterten Begriff von sich zu integrieren. Erweiterung, die es mit seinen Inkonsistenzen vermittelt, mit seinem Nichtwissen wie den Grenzen seines Bewusstseins, mit sich selbst als Subjekt der Blindheit; bevor sich schließlich die Psychoanalyse mit der Konzeption eines um sein Unbewusstes ergänzten Subjekts befasst und dem Versuch, es in seiner Geöffnetheit auf eine Instanz zu beschreiben, die in ihm spricht, während es spricht, und für es entscheidet, bevor es sich seine Entscheidungen aneignen kann.
(8) Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, a.a.O., S. 205.
(9) Friedrich Kittler, „Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von <Ecce homo>“, in Jacques Derrida & Friedrich Kittler, Nietzsche – Politik des Eigennamens, Berlin 2000, S. 83.
(10) Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 10.
(11) Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884-1885, KSA 11, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1988, S. 228.
Vollständiger Text erscheint unter: Notiz zur Kraft