SNF September VI


Das grosse Viereck hat keine Ecken,
das grosse Werk vermeidet es, heraufzukommen,
der grosse Klang hat nur einen reduzierten Ton
das grosse Bild hat keine Form

Die grosse Geradheit ist wie krumm
Die grosse Geschicklichkeit ist wie ungeschickt
Die grosse Beredsamkeit ist wie stotternd.

Diese Formulierungen Laozis zitiert François Jullien in seiner Theorie der Skizze (François Jullien: Das grosse Bild hat keine Form (Paris 2003). München: Fink, 2005, S. 82-98). Er verdeutlicht,xdass die Skizze im Unterschied zum vollendeten Werk mehr „Kraft“, mehr „Macht“ oder „Wirksamkeit“ besitzt, die Einbildungskraft der Betrachter zu wecken als ein vollendetes Werk. Deshalb ist die scheinbar nicht „vollendete“ Skizze vollkommener als das vollvollommen vollendete Bild. Die Skizze weckt die Wahrnehmung, sie spricht die Einbildungskraft der Betrachter an, das Gesehene zu vollenden (Die Funktion der Einbildungskraft besteht in der Projektion (Gombrich)). Die Skizze erinnert daran, dass die Wahrnehmung selbst skizzenhaft ist. Sie ist skizzenhaft, weil sie nicht vollständig ist, weil ihr immer etwas entgeht, weil die Welt mehr ist als das, was die Wahrnehmungen der Menschen fassen können. Die Skizze lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung und nicht auf das Wahrgenommene, weniger auf die Aussenwelt, sondern auf das zwischen Aussen- und Innenwelt Liegende. Die Skizze etabliert, konstituiert das Dazwischenliegende als „etwas“, sie inauguriert es.
Wissenschaftliche Darstellungen operieren zwar mit einem Dazwischen, doch fokussieren sie die Aufmerksamkeit auf die Phänomene, die sichtbar werden sollen. Sie operieren mit der Wahrnehmung als Werkzeug, als Instrument, das dient. Stimmt das?

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