Nils Röller: Interesse IV

Wie kommt es aber zu Ähnlichkeiten zwischen der Lehre des Naturforschers, der in Jena, München und Zürich lehrt, und taoistischen Gedanken? Ein Grund dafür ist die Mathematik. Die Sicherheit, die ihre Logik gewährt, wird von Descartes und Kant aufgewertet. Es ist eine Sicherheit, die die Vernunft einsieht, im Unterschied zu dem Vertrauen, das der Glaube an Gott schenkt. Im Zuge dieser Entwicklung wird der substanzialistische Gottesbegriff aufgelöst. Die Aufwertung der Mathematik, insbesondere des Zählaktes, ist ein Impuls, den Okens “Lehrbuch der Naturphilosophie” nutzt.

Der andere Impuls entspringt den magnetischen Forschungen. Sie erhalten durch die elektrischen Apparaturen von Galvani und Volta vermehrt Aufmerksamkeit. Zwischen der ersten Auflage 1811 und der dritten Auflage des Lehrbuchs 1843 kommt es zu einer bahnbrechenden Entdeckung. 1819 beobachtet Oersted Wechselwirkungen zwischen Magnetismus und Elektrizität. Oken kennt diese Entdeckungen, die auch zentral für die biologische Forschung waren. Sie bestätigen seine Auffassung von der prinzipiellen Bedeutung der Polarität. Er versteht sie mathematisch als positive Setzung oder negierende Abnahme.

Durch Abgabe und Aufnahme von Qi kommt es, dass ein Magnet ein entferntes Stück Eisen anziehen kann. Im 5. Jahrhundert vor Chr. schreibt das “Zeng Zi” (Buch des Meisters Zeng) dazu:

“Das eine, das Qi entsendet, ist aktiv; das andere, das Qi aufnimmt, reagiert. Das ist das Prinzip vom aktiven Yang und reagierenden Yin.”

Ähnlichkeiten zwischen dem Tao und der Naturphilosophie von Lorenz Oken lassen sich in der Aufmerksamkeit für magnetische Phänomene finden. Die magnetischen Beobachtungen zu Okens Zeit bieten eine Möglichkeit, mathematische Methodik mit magnetischen Erfahrungen zu verbinden. Er schafft damit eine Annäherung der europäischen Forschung, die sich stark atomistisch-mechanistisch entwickelt hat, an die Vorstellungen von Kontinua und Wellen. Sie wurden in China bei der Beobachtung magnetischer Phänomene entwickelt. Die Anziehung zwischen Eisen und Magneten, die Richtkraft, die Polarität wurden in China intensiv und experimentell verfolgt, nicht aber in der europäischen Antike, die das Paradigma der direkten Kraftübertragung entwickelte. Magnetisch zu philosophieren, bedeutet hingegen, von direkter Übertragung abzusehen und Fernwirkungen aufzuwerten. Daher erklären sich gewisse Ähnlichkeiten zwischen taoistischen Gedanken und Okens Lehre. Beide Denkformen verbinden Entferntes, so wie ein Magnetstein ein entferntes Eisenstück anziehen kann.

Oken philosophiert aus einem bemerkenswerten Interesse. Dieses Interesse ist zwecklos. Es orientiert sich nicht an der Verwertbarkeit seiner Forschung, sondern an der Forschung selbst. Oken wendet sich mit seinem “Lehrbuch der Naturphilosophie” gegen die herrschende Praxis seiner Zeit, gegen Apotheker und Fabrikanten, die in der Natur lediglich eine Vorratskammer zur Herstellung von Waren sahen. Okens Interesse erinnert an den ursprünglichen Wortsinn.

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