Nils Röller: Interesse III

Bewegung, das heisst Wirklichkeit, bildet sich auf Grund von Setzungen und Negationen von Setzungen. Das bildet Oken konsequent stilistisch ab. Der Leser muss sich bei der Lektüre darin gewöhnen, dass etwas ist und auch nicht ist, so heisst es zunächst:

“Das Zero ist für sich nichts.” (§ 32) Dann folgt:

“Das Zero ist zwar die Allheit der Mathematik, aber nicht die reale, sondern die ideale.” (§ 37) Dabei gilt:

“Reales und Ideales sind eins und dasselbe,
nur unter zweierlei Formen.” (§ 36)


Okens Argumentation spiegelt den Wechsel zwischen Setzung und Negation wieder, den er in der Natur vermutet. Gott und Zero sind eines, aus ihnen gehen die Bewegungen der Polarität und Zeit hervor. Zwischen dem christlichen Gott und dem chinesischen Tao, zwischen + und – und Yin und Yang, zwischen Bewegung und Qi bestehen Unterschiede. Der grösste Unterschied besteht darin, dass im christlichen Denken Gott als Urheber gedacht wird, als Ursache, die alles andere bedingt. Gott ist dementsprechend auch als erstes Glied einer Kette dargestellt worden, an der das gesamte Leben hängt. Das Tao hingegen ist unpersönlich. Bemerkenswert ist, dass Oken Gott als Nichts begreift und eine Verwandtschaft zwischen dem Tao und dem christlichen Gott andeutet.

Von der östlichen Philosophie konnte der Zürcher Professor nur wenig wissen, zum Beispiel was ihm sein akademischer Lehrer Schelling von Leibniz` Philosophie vermittelte. Leibniz hatte sich intensiv mit China beschäftigt. Oken kennt den Begriff der Monade, den Leibniz entwickelt hat. Ausserdem wird Oken von chinesischen Erfindungen wie der Bilderschrift, dem Buchdruck, dem Schiesspulver und dem Kompass gehört haben. Systematische Darstellungen, wie sie uns heute durch Joseph Needhams “Science and Civilisation in China”, philosophische Annäherungen wie die Bücher von François Jullien oder die Arbeiten der “Variantology” zur Verfügung stehen, konnte Oken nicht konsultieren. Oken formuliert ein eigenes System der Naturphilosophie. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den taoistischen Gedanken, die über Jahrhunderte entstanden und kommentiert worden sind. Okens System entsteht aufgrund von eigenen Beobachtungen und dem intensiven Austausch mit anderen Forschern seiner Zeit. Sie fordert Oken ab 1817 zur Publikation in seinem Journal “Isis” auf, sie lädt er ab 1822 zu “Versammlungen der Ärzte und Naturforscher” ein. Oken ordnet das expandierende Wissen seiner Zeit philosophisch. Vergangene Theorien beschäftigen ihn nur am Rande.

Leave a Reply