Chiffrenschrift – Für Ingo Günther und Yves Netzhammer

Verschieden hohe Zahlen verschiedener Toter in verschiedenen Ländern (Überschwemmungen in Indonesien, Bombenattentate im Irak, Kämpfe in Pälästina) verdrängen sich gegenseitig aus dem Bewusstsein der Leserschaft. Der Gedanke, dass diese Toten alle auf eine Wurzel zurückführbar sind, etabliert sich kurz. Lassen sich die Zahlen der Toten als Chiffren eines Plans aufzufassen? * Falls es solche Pläne gibt, hilft es vielleicht, selbst Pläne zu fassen, nämlich solche, mit denen man nicht die Freude am Leben verliert.

Maschinen, so legt, das Bild von Maywa Denki (Erleuchtende Elektrik)
zu hoffen nahe, enthalten Pläne, wie sich Menschen künftig konfigurieren können. Vielleicht lernt die Menschheit von und mit den Maschinen, anstatt den Vergleich und die Konkurrenz mit ihnen zu fürchten. Maschinen können nahelegen, dass der Mensch sich selbst als zusammensetzbar denkt, als etwas, das anders zusammensetzbar ist, als er selbst gerade ist. Das kann beim Denken beginnen. Dieser Prozess hebt damit an, dass man erst einmal sein Denken als Ineinander verschiedener Teile begreift und zweitens diese Teile neu arrangiert.

Hört man Helge Schneider zu oder betrachtet man länger ein Farbfeldbild, lockert sich der mentale Betrieb und man kann beginnen, ihn anders zu konfigurieren. Rilkes Aufforderung Du mußt dein Leben ändern.” ist eine Aufforderung der Kunst. Sie lässt sich verstehen, als Aufforderung zu lernen, mit der Absurdität der Gewaltspirale in dieser Welt zu leben, die Spannung zwischen der Ungerechtigkeit und der eigenen Lebensfreude auszuhalten. Das kann gelingen, indem sich das westliche Subjekt neu konfiguriert, das Ego öffnet und anders denkt. Es ist dann nicht mehr das souveräne Ego, das die Welt zusammendenkt, ihre Chiffren zu lesen weiss, sondern eines, das sich als Empfindungskörper begreift, als stets vom Untergang gefährdetes Wesen, das begreift, dass die Wellen, in denen es untergehen kann, auch Wellen sein können, die den Empfindungskörper tragen.


* Zum Beispiel im Sinne von Novalis:”Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen.”

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