– I: Parfumflasche

Eine Migrantin berichtet von ihrer Überfahrt auf einem Boot, das auf dem Mittelmeer in Seenot geraten muss. Es muss in Seenot geraten, da nur die Flüchtlinge, die von einem in Seenot geratenem Boot gerettet werden, legal von der Küstenwache über die Grenze in die EU gebracht werden dürfen. Während der Fahrt reisst Fatima Abdirahman von ihrem besten und ihrem einzigen Rock nach zwei oder drei Tagen auf dem offenen Meer kleine Fetzen ab, in die sie ihren Kot einwickelt und über Bord wirft. Über Bord lässt sie an einem dünnen Faden auch eine leere Parfümflasche (Attar aus Olivenöl) baumeln, die sie bisher auf der Migration vor Dieben, Polizisten und den anderen Migranten verstecken konnte. Den Inhalt des Fläschchens hat sie zuvor ausgeschleckt. Geplant war es nicht, dass sie solange auf dem Meer ohne Wasser sein würden, ohne Nahrung. Sie hofft, dass ein Fisch das Fläschchen aussenbords erspürt und anbeisst. Tage später, nachdem schon einige Leichen der Migranten über Bord gekippt worden waren, wird sie unter dem Haufen der übrigen Leichen hervorgezogen. Das geschieht nach neun Tagen auf See und einem Tag nach der Sicherung des havarierten Schiffs durch die Küstenwachen von Lampedusa.  (Das Dilemma des Commandante von Dimitri Ladischensky (Text) und Francesco Zizola (Fotos)in der April/Mai-Ausgabe 2006 von mare). Sie selbst wird vielleicht noch zu finden sein in dem Asyl, das ein Franziskanermönch in Lampedusa eingerichtet hat. Vielleicht hat die Überlebende auch eine Stelle als Putzfrau in Palermo gefunden? Während es ihr vielleicht besser geht, erleiden Tausende die von ihr bereits durchlittenen Qualen auf dem Weg der Migration von Afrika nach Europa. Die Überfahrt kostet von Anfang Qualen. Die setzen schon beim Beschaffen der Kosten für den Transfer. Sie betragen 1000 Dollar.
Ist die Grenze zwischen Europa und Afrika, die qualvolle Überwindung der Not vergleichbar mit dem Übergang zwischen Seienden und Sein? Heidegger unterscheidet Sein und Seiendes, notlos und notvoll, eigentlichen und uneigentlichen Nihilismus.  Das Seiende ist die Welt der Technik, der Wissenschaft der Berechnung, des Unverborgenen. Das Sein ist etwas, das schwer zu fassen ist. Ist es so schwer zu fassen, wie das Verhältnis des europäischen Wohlstands zur Armut in Afrika? Was entspricht dann dem Wechselverhältnis zwischen Sein und Seiendem? Entspricht ihm zum Beispiel ein Boot mit Flüchtlingen?

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