Mit Steinen reden

I In China dienten Gelehrtensteine über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende ihrem Sammler als stummes Echo für seinen inneren Dialog.

I Goethe fühlte sich auf einer Reise plötzlich angeblickt, ja angesprochen von einem im Straßenschmutz liegenden Kristall, worauf er sofort begann, mit dem Stein zu sprechen, um zu erfahren, wie jener an diesen unerwarteten Ort gekommen sei.* Goethe sah in der Beobachtung von Steinen den Zugang zum Ursprung aller Gestalt, zur „Urgestaltung“, und versuchte deshalb die Gesteinsformationen zu entziffern** und, wie Andrea Gnam es ausdrückt, auf die leise „Stimme“ der Natur zu hören.***

*Siehe dazu Goethes Bericht über die ‚Begegnung‘ mit einem „Feldspat-Zwillingskrystall“ bei einem Ausflug in Böhmen, in: Thomas Mann: Lotte in Weimar, 8. Kap., Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Fischer, 1960, S. 725 f.

**Vgl. den Dialog zwischen Montan und Wilhelm Meister im Gebirge: „(…) was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert.“ – „Du willst nur ausweichen“, sagte der Freund (Wilhelm, Anm. d. Verf.); „denn was soll das zu diesen Felsen und Zacken?“ – „Wenn ich nun aber“, versetzte jener, „eben diese Spalten und Risse als Buchstaben behandelte, sie zu entziffern suchte, sie zu Worten bildete und sie fertig zu lesen lernte, hättest du etwas dagegen?“ – „Nein, aber es scheint mir ein weitläufiges Alphabet.“ – „Enger als du denkst; man muß es nur kennen lernen wie ein anderes auch. Die Natur hat nur eine Schrift und ich brauche mich nicht so mit Kritzeleien herumschleppen.“ – Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meister, Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 8, hrsg. v. Erich Trunz, 8. überarb. Aufl., München 1973, S. 34.

***Vgl. Andrea Gnam: „Geognosie, Geologie, Mineralogie und Angehöriges“ Goethe als Erforscher der Erdgeschichte. In: Goethe nach 99. Positionen und Perspektiven. Hrsg. von Matthias Luserke. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 79-88. Hier S. 88.

 

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