Johannes Binotto

Durch

Wie kommt es eigentlich, dass man glaubt, man könne den eigenen Körper dem, was man gemeinhin Umwelt nennt, entgegensetzen? Wir behaupten den Leib als kompakte Einheit, dessen Unversehrtheit wir bewahren müssen und erklären diese Unversehrtheit gar zu einem Menschenrecht. Doch strafen wir uns dabei buchstäblich mit jedem Atemzug selber Lügen. Denn was sind Mund und Nase, durch die wir atmen anderes, als Versehrungen, Löcher im Körper? Lebt der Körper nicht ausschließlich über seine Wunden: Essen, Scheißen, Schwitzen, Sehen, Sprechen, Hören – all dies vollzieht sich über empfindliche und entzündliche Körperöffnungen: Körperzonen, welche die Psychoanalyse erogen nennt, Zonen der Erregung, in die man ein- oder aus denen man ausdringt, Zonen des Übergangs mithin, wo sich die Unterscheidung von Innen und Außen auflöst. Der Fakir, der sich eine Nadel durch seinen Schenkel bohrt, führt nur vor, wie unser aller Körper ohnehin beschaffen ist: nicht versiegeltes Gefäß, sondern vielmehr Schwamm, vollkommen durchlässig und von Gängen durchzogen. Was man am einen Ende hineingießt, tropft aus allen anderen Poren und Löchern wieder heraus, als Schweiß, Tränen und Urin. Wenn man sich eine genügend helle Taschenlampe in den Mund steckte, müsste das Licht aus unseren Körperöffnungen treten. Der anus solaire, von dem Bataille schreibt, wäre dann mein eigener. Und so geht auch der Raum, von dem ich sage, er sei mir äußerlich, eigentlich unentwegt durch mich hindurch. Ich selber als poröses Lebewesen bin nur ein Tunnel, eine Passage, wie ein offener Radiator, der im Zimmer steht. Es gibt mithin gar kein Körperinneres, sondern eigentlich nur eine unzählig oft gefaltete Oberfläche, die man wieder auseinanderfalten könnte, wenn man über Pinzetten verfügte, die fein genug wären. «Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe» behauptet Nietzsches Zarathustra und denkt dabei doch noch zu wenig dynamisch. Seele ist nicht am Leib, sondern vielmehr, was durch diesen hindurchgeht, durch seine Kanäle und Höhlen strömt, sich über seine Oberflächen und deren Faltungen ergießt. Das Subjekt: ein Durchfluss.

Johannes Binotto

Ein Beitrag zum Steintag

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