Canto IX ?/07

Voilà, nun erneut Schwarz, ein schwarzer Balken dominiert die Wahrnehmung. Er steht links, am Anfang, dort, wo wir zu lesen beginnen. Es ist das Schwarz des Anfangs. Ist es das Schwarz des Anfangs? Oder ist es das Schwarz, das auf uns zukommen wird, wenn wir so weiter schreiben? Wenn wir die Welt mit den schwarzen Zeichen bedeckt haben? Zweierlei Schwarz: Das Schwarz des Dunkels, das die Mythologien an den Beginn der Schöpfung stellen; das Schwarz der Schrift, mit dem die Menschen die Natur überschreiben. Schwarz am Ende und Schwarz am Anfang. Hier steht es am Beginn der Lesebewegung. Der Blick zieht es mit, es wirft seinen Schatten auf das Aralblau, das vier Fünftel des Blatts bedeckt.

Apropos Fünftel. Wir befinden uns jetzt in der Hälfte von Newman`s Cantos. Es ist das neunte Blatt. Es werden noch weitere Blätter folgen. Die Numerierungen der Blätter schreiten fort wie das Schwarz, wie eine Walze, die einmal in Bewegung gesetzt, nicht mehr zu stoppen ist, so bewegen sich die Zahlen: Canto I, Canto II, Canto III, Canto IV… Doch die Bewegung wird abbrechen, sie wird nach neun weiteren Blättern abbrechen. Wird sie abbrechen? Die Bewegung der Zahlen hat eine Bewegung der Farben und Flächen in Gang gesetzt, die kein Ende finden muss, aber kann. So verstehe ich das Fünftel schwarzer Fläche am linken Bildrand. Es lässt die Möglichkeit weiterer Farbwechsel erstrahlen. Es ist als Anfang und Ende, Anfang der natürlichen Schöpfung und Ende der menschlichen Schöpfung konzipierbar.

Der Migrant Jabès spricht vom Schwarz der Buchstaben und dem Weiss der Seite. Das Weiss ist die Wüste, das Schwarz ist die Zeichenwüste, die dem Menschen mit der Schöpfung übergeben wurde. Der Migrant wandert von Wüste zu Wüste, zwischen der Wüste der versengenden Sonne, dem Hunger und dem Durst und der Wüste des Verlangens der Buchstaben, die Sehnsucht nach dem, was die Zeichen bedeuten, weckt. Das kann eine Sehnsucht nach der Quelle der Welt und eine Sehnsucht nach der Quelle der Urheber der Zeichen sein. Vielleicht haben Welt und Zeichen gemeinsame Urheber?

Kann es sein, dass die Schöpfung vorhergesehen hat, was der Mensch mit ihr alles anstellen wird? Dass der Mensch schreiben wird, dass er andere Menschen erschlagen, chikanieren, quälen und foltern wird, dass er auch die Natur chikanieren wird? Hat das die Schöpfung vorhergesehen, als sie die Welt aus dem Dunkel treten liess?

Dem Schwarz kann man alles zumuten. Vielleicht hat Newman es deshalb am linken Rand in der Hälfte der Cantos platziert. Es ist ein Angebot abzulegen, abzuwerfen. Es ist eine Ablage, auf der die Mühe des Vorherigen platziert werden kann. Es kann den Ekel, das Unwürdige, den Schrott, das Scheitern aufnehmen. Es ist ein Abgrund. Dieser Abgrund entlastet. Zugleich kann es immer wieder auftauchen. Es taucht bei Newman immer wieder auf, damit taucht auch alles Abgelagerte wieder auf, das von Menschen Geschaffene, die verursachte Trauer, aber auch die Hoffnung, allerdings weiss man nicht welche Hoffnung:

NZZ Nr. 38
NZZ Nr. 23
NZZ Nr. 20
NZZ Nr. 19
NZZ Nr. 28
NZZ Nr. 18?

Siehe auch:Nils Röller (Hrsg.): Migranten – Edmond Jabes, Luigi Nono, Massimo Cacciari

Jude sein heißt Migrant, Wanderer sein, “nicht anzuhalten und eine Bleibe zu nehmen, sondern allem zu entfliehen: dem Land der Väter, dem Lachen des Sohns, sich selbst.” “Aber Jabès ist nicht ein jüdischer Schriftsteller: ‚Ich habe mich nie für einen jüdischen Schriftsteller gehalten. Ich bin Jude und Schriftsteller, und das ist keineswegs dasselbe.` Es ist nicht nur nicht ‚dasselbe`, weit mehr: hier kommt es vielmehr zu einem Bruch: hier findet die authentische, äußerste Wanderung statt – jene des Geschriebenen, der Schrift selbst, fort vom Jude-Sein.” Auf diesem Wege trifft Jabès auf den Komponisten Luigi Nono und auf den Philosophen und Politiker Massimo Cacciari, zwei Venezianer, die ihrerseits nach neuen Wegen suchen, musikalisch, philosophisch, politisch. Erste Ansätze einer Zusammenarbeit werden durch den Tod von Nono und Jabès jäh unterbrochen.

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