Canto VII ?/07

Hellblau kippt in Dunkelblau, Dunkelblau kippt in Hellblau. Hellblau scheint frottiert durch das Dunkelblau. Dunkelblau scheint durch Hellblau. Was vorne ist, kann nach hinten geraten. Was hinten ist, kann nach vorne geraten. Das Sehen kippt, schlägt um. Kentert es? Nein, aber das Sehen findet keinen Anhaltspunkt, keine Sicherheit. Es kann nicht angeben, wann es etwas begriffen hat. Das ist eine Einladung, über das Denken zu reflektieren. Das Denken so zu reflektieren, dass es sich als werdende Form versteht, als etwas, das sich in Auseinandersetzung findet, nicht in der Abkehr von der Welt zufrieden stellt. Es wird dann leider nicht zur Ruhe kommen. Warum sollte es auch?

Es ist doch eine Tätigkeit, die ausgeübt werden will, nicht etwas, das still abwartet. Aus dem östlichen Hintergrund auf die westliche Bühne der europäischen Medien traten Ende Januar chinesische Arbeiterinnen in Rumänien: “Rund 400 chinesische Textilarbeiterinnen der Wear Company sind in der Stadt Bacau, nordöstlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest, in den Streik getreten. Es sind die ersten chinesischen Arbeiterinnen, die legal in Rumänien arbeiten. Dem Land fehlt es an Textilfacharbeitern, da viele in Westeuropa nach Arbeit suchen. Die Arbeiterinnen verlangen eine Verdoppelung ihrer Löhne von 350 US-Dollar im Monat (275 Euro) auf 700 US-Dollar und bessere Lebensbedingungen, da sie jeden Tag hungrig sind.”(Indy Media)

Die Nachricht kippt den Osten in den Westen. Der Westen kippt in östliche Verhältnisse. Die Meldung fordert uns heraus, etwas zur Kenntnis zu nehmen und zu empfinden. Der Hintergrund des chinesischen Wirtschaftsbooms gerät in einen zwielichtigen Vordergrund, der Europa östlich erscheinen lässt. Chinas unbarmherzige Arbeitsbedingungen zwingen einzelne Frauen, in Rumänien Arbeit zu suchen, in einem Rumänien, das in Europa nicht für seine Barmherzigkeit bekannt ist, das aber gleichwohl Teil der euopäischen Wertegemeinschaft sein möchte. Doch in Rumänien sind die Arbeitsbedingungen so katastrophal, dass die Arbeiterinnen aus China streiken. Rumänien, in dem dieser Streik sich vordergründig abspielte, gerät bei näherem Nachdenken in den Hintergrund. In den Vordergrund gerät Europa, ein Wirtschaftsraum, in dem mittlerweile wieder koloniale Arbeitsbedingungen herrschen, die man nach Asien ausgelagert zu haben meint.

Was ist jetzt Europa? Sein Bild changiert in der jetzigen Lage. Ich denke, dass wir dieses Bild mitgestalten sollten. Wir können Europa als Herausforderung, als Forderung nach menschenwürdigen Verhältnissen, definieren. Dieser Forderung Ausdruck zu verleihen, das ist eine Chance für das Denken. Das Denken kann dazu verschiedene Modi der Kunst aktivieren, die von den Avantgarden entwickelt worden sind.

Lässt sich mit der Forderung nach Würde ein changierendes Denken vereinbaren? Im 20. Jahrhundert kehrte etwas um. Man singt, malt, macht nun etwas, weil man etwas mittzuteilen hat. Oder hat man nun etwas mitzuteilen, weil man zu singen, zu malen, zu tun hat? Im 20. Jahrhundert beginnt Proust an einem Roman zu schreiben, weil er glaubt, einen Roman schreiben zu müssen. Die Sorge, diesen Roman schreiben zu können, strukturiert, rhythmisiert seine Darstellung. Die Darstellung gewinnt an Eigendynamik: der Inhalt des Darzustellenden wirkt demgegenüber peripher, unwichtig. Doch das ist eine Methode, Unwichtiges wichtig werden zu lassen. Es erinnert an eine Gewohnheit Wolfram von Eschenbachs, der an der Schwelle von einer mündlichen zu einer schriftlichen Gesellschaft über das Schreiben dichtete.

Proust schildert, dass er durch Telephon und Rohrpost anders zu fühlen beginnt. Nebensächliches wird zur Hauptsache und umgekehrt. Seine Aufmerksamkeit wirkt heute wegweisend. Sie übt Gemüter ein, instabile Verhältnisse wahrzunehmen und bewusst zu erleben. Proust bildet sich und seine Leser zu Empfindungskörpern aus. Empfindunskörper sind eine notwendige Bedingung für das Denken. Denken ist erst dann eine sinnvolle Tätigkeit, wenn es sich in Beziehung setzt zu möglichen Empfindungen. Das kann in aller Abstraktion geschehen, muss aber nicht. Kant schreibt so schön abstrakt, vielleicht, weil durch seine feinen Formulierungen, das Gefühl durchscheint, dass es schön wäre, wenn die Welt schön zu denken wäre. Newman malt abstrakt und konkret zugleich. Er führt dem Betrachter vor Augen, wie wenig sicher Wahrnehmungen sind, wenn man beginnt, sich auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten von changierenden Vorder- und Hintergründen einzulassen.

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