Descartes – der entscheidende Zug des cogito wird meist übersehen
“Bei einer Zuwendung zu zentralen Texten Descartes fällt auf, daß der entscheidende
Zug des cogito zumeist übersehen wird. Das cogito hat -und das ist nicht zufällig -einen
temporalen Index. Wer auch immer mich zu täuschen versucht, sagt Descartes in der 2.
Meditation, wird niemals bewirken, „ut nihil sim quamdiu me aliquid esse cogitabo“ (VII, 25;
vgl. 36). „Ego sum, ego existo: Certum est. Quamdiu autem? Nempe quamdiu cogito…“ (VII, 27). Auch die zwingende Evidenz der klaren und deutlichen Einsicht gilt nur, „quamdiu
aliquid valde clare et distincte percipio“ (69). Wie lange aber vermag ich zu denken? Bei
Lichte besehen nicht einen einzigen Moment aus eigener Kraft. Denn da die Zeit, verstanden als duratio rei durantis (VII,370), aus diskreten, voneinander unabhängigen Momenten besteht, ist die Fortdauer zeitlicher Existenz das ganz und gar nicht Selbstverständliche. Daraus, daß wir bereits sind, folgt gerade nicht, daß wir in der nächstfolgenden Zeit auch noch sein werden (ex eo quod jam simus, non sequitur nos in tempore proxime sequenti etiam futuros (VIII 1, l3) . Der Fortbestand unserer Existenz ist daher für Descartes in sich schon ein Gottesbeweis: Existentiae nostrae durationem sufficere, ad existentiam Dei demonstrandam“ (VIII, 1, 13, in mg.). Eine „necessitas consecutionis“ gibt es nur zwischen den Teilen der in abstracto betrachteten Zeit (vgl .VII, 369sq.). Die diskrete Zeit, um die es Descartes geht, ist schlechterdings erhaltungsbedürftig, und zwar, wie es ihrer Natur entspricht, von Moment zu
Moment. Weil meine ganze Lebenszeit in unzählige Zeitteile geteilt werden kann, die in
keiner Weise voneinander abhängen, folgt daraus, daß ich wenig früher gewesen bin, nicht,
daß ich jetzt sein muß, wenn ich nicht gleichsam von Moment zu Moment wiedererschaffen
werde. (Quoniam enim omne tempus vitae in partes innumeras dividi potest, quarum singulae a reliquis nullo modo dependent, ex eo quod paulo ante fuerim. non sequitur me nunc debere esse, nisi aliqua causa me quasi rursus creet ad hoc momentum, hoc est me conservet. VII,48, ganz ähnlich VIII 1,3). Hier hat das uns schon bekannte „quamdiu“ wiederum seine Stelle: „…non possumus existere, quin conserver quamdiu existo…“ (VII, 168 ) Ich existiere, ohne doch die Macht zu haben, mein eigenes Sein erhalten zu können („…existo. et tamen vim non habeo meipsum conservandi…“, ib.) Nur ein allmächtiges Wesen ist zur Selbsterhaltung fähig. Alles übrige wird nur dadurch kontinuierlich im Sein erhalten, daß es in allen Momenten seiner zeitlichen Existenz unaufhörlich gleichsam neu reproduziert wird („…nisi aliqua causa me quasi rursus efficiat singulis momentis“ (VII,109), „nisi aliqua causa nempe eadem, quae nos primum produxit, continuo veluti reproducat…“, VIII 1,18). Man wird einwenden, daß die Erhaltung (conservatio) eine Fortsetzung der Schöpfung sei, könne schon bei Thomas von Aquino nachgelesen werden. Neu und ungewöhnlich an Descartes‘ Version der Lehre von der göttlichen Mitwirkung ist jedoch, daß er die Zeit von vornherein nur als aus unabhängigen Teilen bestehend in Anschlag bringt und sie darum in seinen Überlegungen zur ungesicherten Existenz auf Momentaneität stellt. Ihn interessiert das „kurz zuvor“ (paulo ante), „jetzt“ (nunc), „demnächst“ (proxime) und bald danach (mox futurum) der einzelnen Momente, das „sofort“ (statim) als charakteristisch für die Seinshinfälligkeit der Welt, denn: „…Nec dubium est, si Deus cessaret a suo concursu, quin statim omnia quae creavit in nihilum essent abitura“, III,329; vgl. VI,16 über das Nichtbestehenkönnen der abhängigen Dinge „un seul moment“). Das schreibt Wolfgang Hübener in dem Aufsatz “Was leistet eine Denkstilgeschichte, die sich weiterhin an der Stilgeschichte der bildenden Kunst orientiert? “: