Alles in Rechnung bringen

In einer barocken, tänzelnden Sprache, die ein spielerisches Verhältnis zum Leben suggeriert, spricht Leibniz vom Verhängis. Tänzeln im Unterschied zu Tanzen ist eine Bewegung um ein Zentrum, das man nicht selbst gewählt hat, während Tanzen eine selbstbestimmte Bewegung ist. Ob etwas tanzt oder tänzelt, wird eine Frage der Perspektive sein. In Leibniz Perspektive tänzelt der menschliche Wille wie eine Magnetnadel, deren Verhalten vorherbestimmt ist. Wenn wir denken lernen, dass wir tänzeln, anstatt zu tanzen, lernen wir einsehen, wie wir bestimmt sind. Diese Einsicht hilft uns, Spielräume zu erkennen. Ein Spielraum eröffnet sich uns zum Beispiel dann, wenn wir uns fragen, wie wir über Migranten nachdenken. Denken wir über Einzelschiksale nach oder sehen wir einen Migranten verkettet mit allgemeinen Entwicklungen? An unserer Wahrnehmungsform hängt es, wie wir ihn verkettet sehen: „Logik und Metaphysik schaffen in ihrem wechselseitigen Ineinandergreifen den Grundriss der Metaphysik.`Dass alles durch ein festgestelltes Verhängniss herfürgebracht werde, ist eben so gewiss, als dass drey mal drey neun ist. Denn das Verhängniss besteht darin, dass alles an einander hänget wie eine Kette, und eben so unfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als unfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen. Die alten Poeten, als Homerus und andere, haben es die güldene Kette genennet, so Jupiter vom Himmel herab hängen lasse, so sich nicht zerreissen lässet, man hänge daran, was man wolle. Und diese Kette besteht in den Verfolg der Ursachen und der Wirkungen. Nemlichen jede Ursach hat ihre gewisse Würkung, die von ihr zuwege bracht würde, wenn sie allein wäre; weilen sie aber nicht allein, so entstehet aus der Zusammenwirkung ein gewisser ohnfelhbarer Effect oder Auswurf nach dem Mass der Kräfte, und das ist wahr, wenn nicht nur zwey oder 10, oder 1000, sondern gar ohnendlich viel Dinge zusammen würken, wie dann wahrhaftig in der Welt geschicht. … Hieraus sieht man nun, das alles mathematisch, das ist ohnfehlbar zugehe in der ganzen weiten Welt, so gar, dass wenn einer eine gnugsame Insicht in die innern Theile der Dinge haben könnte, und dabei Gedächtnis und Verstand gnug hätte, umb alle Umbstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein Prophet seyn, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen als in einem Spiegel“.Leibniz nach Cassirer: Freiheit und Form – Studien zur Deutschen Geistesgeschichte [1916]. Bd 7 der Gesammelten Werke. Hamburg 2001: Meiner, S. 29

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