Archive for 2014

Sunday, December 28th, 2014

Stromfühlung110

Barbara Ellmerer

F II

Friday, December 26th, 2014

Muss ins Netz,
mich mit den vagen Bürgen
dort verbündeln,
graupeln, suppen,
damit allein ich
nicht mit den
Daten bleib’
auf meinem Dattelsitz
im Schober der Rendite,
die mir zum Festtag
ausgeschüttelt werden
(von den Räubern, den
Dattelmacherhändlern, auf
die ich sonst so schimpf).

Walther von der Vogelweide

Thursday, December 18th, 2014

Ich sass auf einem Stein,
die Beine übereinandergeschlagen,
drauf hatte ich den Ellbogen gesetzt,
in meine Hand geschmiegt
mein Kinn und die eine Wange.
Ich dachte sehr ernsthaft darüber nach,
wie man in der menschlichen Gesellschaft leben solle.
Ich wusste keinen Rat …
Walther von der Vogelweide, Gedichte (Übersetzt von Horst Brunner, Stuttgart: Reclam 2013), S. 17

Tim Zulauf

Tuesday, December 9th, 2014

Meilensteine in Gesellschaft

 

Mit ihren Unterlagen schiebt eine jüngere Wirtschaftsfahnderin eine ältere in deren Büro, so eifrig, dass auch deren gerufenes «Langsam!» nicht bremst. Beschwichtigend bleibt der Älteren nur die Erwartung zu dämpfen. Ihre pumpenden Armbewegungen weisen zum Boden hin, während sie sich hinter ihren Schreibtisch zurückzieht. Die Hand der jüngeren greift derweil hektisch nach Luftzylindern – als suche sie Worte über der Tektonik des gestapelten Papiers. Oder als wolle sie nach einer Tasse fischen. Filterkaffee, das Requisit der Polizeiarbeit, ist aber längst verboten. «Immer noch süchtig nach dem eindeutigen Berufsbild?» fragt die Ältere. Mit Seitenblick überschlägt sie die Beine auf ihrem Tisch, stützt den Oberkörper auf durchgedrückte Arme, und formt ein «N». Gerade so, dass durch den Buchstaben die zwei Bildtafeln im Hintergrund – ‹A, Stein I› und ‹B, Steine II› – nicht mehr zu sehen sind.

 

«Boss. Was machen wir mit dieser Geschichte hier?» Als Fragezeichen stehen zwei Bogen Computer-Ausdruck in die Luft: «Das ist aus demselben Chatroom abgefangen. Ich beobachte diese beiden Trader ja nun seit Wochen. Es müssen dieselben sein. Nur sie haben Zugang – neben mir. Aber auf einmal kann ich nichts mehr entschlüsseln. Ich war mir sicher, die wetten gegen Griechenland, ich war mir sicher, wir hätten die gleich am Wickel – aber jetzt  … »

Die Ältere schaut: «Sieht tatsächlich aus, als wäre das … codiert? Sehr ungewöhnlich. Oder  war das vielleicht doch privat?»

«Ich frage mich eher, wie das zu knacken wäre, beruflich, Boss.  Hören Sie her … » Die jüngere Wirtschaftsfahnderin beginnt, den Chatroom-Dialog vorzulesen.

 

A: Was denken Sie: Was denkt der Sand, wenn ein Stein auf ihm lastet? Wenn er von der Gravitation zermahlen wird, und doch innerlich von ihr gehalten ist?

 

B: Er mahlt sich wohl dem Nichts entgegen. Der Sand, unter der Dominanz eines Steins.

 

A: Die steinige Definition würde er gerne unter sich begraben, genau. Aber er hängt von ihr ab, als Teil von ihr. Als Sand …

 

B: … als Sand… möchte er jedenfalls nicht Staub werden. Verstehe … Während der Stein nicht zugeben mag, dass er, als ehemaliger Schlussstein eines Tempels, Lust an der Last des Findlings hat, unter dem er eingekeilt liegt.

 

A: Ja. Sobald sich im Gebirge ein Felsbrocken löst, der dann jahrhundertelang in einer Zwischengrösse weiterdöst …

 

B: … und der dabei nicht mitbekommt, wie Kontinentalplatten sein Erbe auseinanderreissen.

 

A: Allerdings: Unsere Definitionen halten auf den Objekten nicht. Selbst wenn es Steine sind, zerspringen sie irgendwann und zerreissen unsere Zeichen …

 

B: …  die Länder, die Nationen …

 

A: Aber wäre das nun eine Drohung? Drohen diese Grenzsteine unserer Vorstellungskraft, wir dürften uns in diese Krise nicht weiter einmischen?

 

B: Drohen? Nein. Ich sage nur: Wenn wir weniger selbstbezogen denken würden. Obwohl wir weder wissen, wie das ginge, noch was das wäre, in einer anderen körperlichen Schwere oder magnetisch schwebend zu denken wie ein Stein und damit ausserhalb der für uns relevanten Zeit zu sein – also ausserhalb einer Zeit, die sich in blauen Flecken äussert oder in Knochenbrüchen, die wir unvermittelt verarzten müssen, ohne auf die Gespräche einer stummen Welt zu hören. Wenn wir das könnten …

 

A: Ich kann Ihnen nur schwören, wie sehr ich das wollen würde: Die Grenzen meiner Einfühlung über das Lebendige hinaus zu dehnen. Vielleicht bleibt der Stein dann trotzdem das Ding, das wir am besten werden können – «werfen können» wollte ich schreiben (das war die Autokorrektur ;-).

 

B: Kiesige Abwege beschreiten Sie da – «beschreiben», wollte ich schreiben – auf der Suche nach einer Einheit, auch diesseits der siliziumhaltigen Intelligenz, hier bei uns.

 

A: Der Stein verdankt seinen Namen doch weiterhin der Spanne einer Hand, die ihn halten kann. Als Werkzeug, Keil in der Faust, Instrument zu etwas …  als Trockensteinmauer eines Gebäudes oder als Gefüge von Begriffen, als philosophische Behausung. Zwecks Abgrenzung. Aber ob er da dann dankbar ist, der Stein, darüber wie unsere Hand ihn definiert, und ihn von Sandkorn, Kiesel, Brocken, Felsen, Findling unterscheidet, das darf bezweifelt werden.

 

B: Gut. Da bin ich Ihnen dankbar. Nur warum drohen Sie mit einer Spaltung? Könnte ich denn für Sie nützlich sein, als zertrümmerte Identität, als Geröllhalde?

 

A: Das Gegenteil, meine ich. Sie sollten noch mehr Stein sein wollen, mehr handhabbare Einheit, sollte es irgendwie weitergehen für Sie. Hier bei uns. Es geht um die geschlossene Form. Kein Gebröckel.

 

«Das ist doch eindeutig eine neue Information, Boss. Die Steinbeisser scheinen unter sich, in ihrer Arbeit, geteilter Meinung zu sein. Vielleicht hat ihre Quelle in Brüssel auch geblockt. Das ist keine kompakte Organisation mehr. Aber … was wären deren innnere Anziehungskräfte, frage ich mich, wenn … »

«Ich glaube, Sie haben ganz einfach Daten eines falschen Gesprächs abgezogen, meine Liebe. Überprüfen Sie das. Denken Sie nach. Und raus an die Arbeit.», sagt die Ältere, die plötzlich jünger als die Jüngere wirkt, während sie mit katzenhafter Drehung die Bildtafeln A1 und A2 von der Wand streift und geräuschlos unter den Tisch gleiten lässt: «Es gibt noch viel zu tun.»

«Ich glaube auch, Boss. Ich glaube nur eben auch», flüstert sie, «da sind Leute aus unserer eigenen Abteilung im Spiel. Irgendjemand spielt hier den Stein, als Spielstein … Wenn das der Fall wäre … sprechen sie ihn diesem Chat da vielleicht von … Meilensteinen: Sie planen die Schritte, bis sie dann wirklich zuschlagen. Wenn die Anziehungskräfte der Märkte erst stimmen.»

«Dann könnten wir dieses Internetgespräch gleich auf unsere Abteilung und uns selber anwenden? Drohen Sie mir?» lacht die jetzt Jüngere, schiebt die Ältere hinaus, und betätigt den Reisswolf. «Die Bilder dieser Steine bleiben doch vor allem eins: Ein Widerstand.»

Tim Zulauf

 

Ein Beitrag zum Steintag

Siegfried Zielinski

Tuesday, December 9th, 2014

 

siegfried1Homo sapiens oder homo sacer, homo ludens, homo artefactus oder homo generator, die derzeit kursierenden Erklärungsmodelle für das Wesen des Däumlings, der wir sind, haben etwas wichtiges gemein: In allen diesen Versuchen, für den Menschen etwas zu bestimmen, was nur ihn als Spezies auszeichne, wirkt sein Körper als Medium. Er vermittelt vom Einzelnen zur Welt des Geistes, des Heiligen, des Spielens, des künstlich Erzeugten wie des Erzeugenden und umgekehrt – von diesen Welten hin zum Einzelnen. Johann Wilhelm Ritter (1776-1810), der Chemiker und Physiker aus Samitz/Samienice/Samitz im heutigen Polen hat diese einfache und archaische Medientheorie mit seinem eigenen Körper zu beweisen versucht und bezahlte dafür einen hohen Preis. Durch die systematischen Experimente im eigenen Körperlabor ruinierte er seine Gesundheit und starb zu einem biographischen Zeitpunkt, an dem für die meisten das Leben erst beginnt. Zwei Grundannahmen waren dabei für Ritter ausschlaggebend:

In der materiellen Welt gibt es nichts rein Statisches. Alles was ausgedehnt ist, oszilliert, ist gemischt, enthält innere Dynamiken und lebt somit. Im Zustand der Schwingung kann es keine Ruhe geben. Ritter hob in seinem Denken und Schreiben nicht nur den Unterschied zwischen Wissenschaft und Poesie, zwischen Text und Bild, sondern in epistemologischer Hinsicht die Differenz zwischen Wissenschaften von lebendigen und toten Dingen auf. Er war Physiko-Chemiker. Seine Wissenschaft vom Leben umfasste das Kunstwerk ebenso wie den Stein als potentielle Gegenstände.

Alle Kräfte haben ihren Ursprung in der Polarität. Sie enthält zugleich das Konzept der Komplementarität. Das Negative und das Positive schließen sich nicht aus, sondern repulsieren gegeneinander oder schwingen miteinander. Das Mikrokosmische des Individuellen vibriert ähnlich zwischen negativer und positiver Spannung wie die Erde als gewaltiger einzelner Planetenkörper und das gesamte Universum. Der Körper des Wissenschaftlers zeigt dies an. Er ist Display und somit ursprüngliches Medium.

Materialistische Medienwissenschaft wurde spätestens um 1800 erfunden.

Aus dem Brief an Oersted:

siegfried2

Quelle: Ritter, J. W.: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Ein Taschenbuch für Freunde der Natur. Heidelberg: Mohr und Zimmer, 1810. Faksimile(nach)druck mit einem Nachwort v. Heinrich Schipperges, Heidelberg: Schneider, 1969.

Siegfried Zielinski
 

Ein Beitrag zum Steintag

Maria Magdalena Z’Graggen

Tuesday, December 9th, 2014

zgraggen

Maria Magdalena Z’Graggen ACc, Aquarell auf Papier, 18,50 x 32,50 cm, 2014.
 

Ein Beitrag zum Steintag

Rolf Winnewisser

Tuesday, December 9th, 2014

Stein V

mit der Absicht einen Text zu schreiben
über und mit einem Meteoriten
als wäre es ein Gespräch
mit dem Querschnitt durch Buenaventura
Fund in Chihuahua Mexiko 1969
begebe ich mich
angestossen von den Abbildungen
A Stein I und B Stein II
im Buch Über Kräfte
ins Naturhistorische Museum in Wien
auf dem Weg zu den Meteoriten
bleibe bereits im ersten Saal
der Mineralien vor der Vitrine
Archäologie der Gesteine stehen
das Auge verliert sich
in den vielfältigen Formen
der Mineralien
ein erstes Innehalten
oder Angehalten werden
Steine die mich anschauen
oder müsste ich den Kreislauf von
etwas schaut mich an –
ich schaue es an und so weiter
durchbrechen und den Blick
auf die Zettel neben den Steinen lenken
im Ruinenmarmor eingeschriebene
ockerfarbene Landschaft
mit dem Eingang einer Grotte sehen
Seelenschwefel Diamantschildkröte
Salzkäfer Fliegenstein Leberblende
Forellenstein Erstarrte Explosionen
Kubistische Dörfer
Kupfer aus der Steiermark
mit der unregelmässigen Form
die einen prismatischen Körper
diagonal durchdringt
Mikroskopisch kleine
dicht eingelagerte Fluideinschlüsse
sind in diesem Quarz
vom Kap der Guten Hoffnung
phantomartig angeordnet
einzelnen mit Gas und Wasser
gefüllten Bläschen (Kavitäten)
die diese chaotisch anmutende Trübung
bewirken sind nur bei sehr starker
Vergrösserung sichtbar
ein erstes sich Hingeben in das
was einen anschaut
wird zu einem Stolperstein
der Goldklumpen Welcome
erinnert mich an den Torso
eines Kentaur
im Saal der Mineralien verliere ich
die Orientierung
es ist die Fülle
trotz der Ordnung in den Vitrinen
weiss ich nicht auf was ich achten soll
ob es die Zuordnung ist
Formen zwischen
klaren kubischen Volumen
bis zu haarigen Gewächsen
eine schier endlose Skala
von Erscheinungsweisen
Gelb Rosa Purpur Blau
ineinander verschachtelte Volumen
Gegensätze Innenlinien Stadtansichten
Nervenstränge oder Stadtpläne
geheime Treffpunkte
Zeichen in der Nähe von Buchstaben
im Schriftgranit
Sprache der Steine
Kräfte die auf die Steine einwirken
Kräfte die die Steine besitzen
Ereignisse die die Steine
in Szene versetzten
nach dem Durchqueren der Mineraliensäle
betrete ich den Meteoritensaal
Formen des Innersten des Beginns
Zeugen aus der Frühzeit
unseres Sonnensystems
lese ich im Buch Meteoriten
als am Rande einer Spiralgalaxie
eine grosse Gas- und Staubwolke
zusammenzustürzen begann
kam es durch den Kollaps
zu immer schnelleren Rotationen
wobei sich im Zentrum
die Materie zusammenballte
durch die Hitze des jungen Sterns
verdampfte der Staub
im umgebenden Nebel und kondensierte
aus diesen Bestandteilen entstanden
die Meteoriten und Planeten
Meteoriten sind aus dem Weltraum
auf die Erde herabstürzende
Stein- und Eisenmassen
in einer Abhandlung hielt der Jesuit
Domenico Troili Augenberichte fest
und deutete den Stein
als Auswürfling einer unterirdischen
vulkanischen Explosion
in der Theorie von Silberschlag
zur Entstehung der Feuerkugeln
wurden diese als Produkt
der Anreicherung
von schleimigen oder öligen Dünsten
in den oberen Schichten
der Atmosphäre erklärt
Schnittflächen liegen in den Vitrinen
mit ihren Einschlüssen
und Innenformen locken sie das Auge
zu sehen sind Widmanstättsche Figuren
diese Figuren sind das Resultat
von Entmischungsvorgängen zwischen
nickelarmem Kamazit
und nickelreichem Taenit
in langsam abkühlenden
metallischen Kernen von Asteroiden
Flecken und Olivinsplitter
die der Venus von Willendorf gleichen
was gleicht so schnell einer Figur
ohne Umweg über die Vorstellung
wenn nicht das was das Auge kennt
Strukturen und Abweichungen
Rhythmuswechsel
Raumgitter
durch das das Auge hindurchfällt
an gewissen Überschneidungen
haben sich weiche figurenähnliche
Formen festgehalten
eingebettet in die geometrische
dreidimensionale Struktur
kleine Verdickungen
Wesen aus einer anderen Dimension
Wurmlöcher
die sich um das räumliche Gitter winden
sich überschneidende Diagonalen
die von vertikalen oder horizontalen
parallel geführten
unterschiedlich dicken Balken
zu einem Gittergerüst gefügt sind
diese Komposition erscheint
durch scheinbar achtlose Symmetrie
wie zufällig entstanden
als wäre ein Piranesi und ein Escher
bereits beim Bau dieses Gerüstes
dabei gewesen
Erinnerungen aus dem All
dann wieder ist es die Aussenform
der Meteoriten die mir auffällt
die Beschaffenheit der Oberfläche
mit den Ein- und Ausbuchtungen
Faltungen und Wölbungen
Löcher und Vertiefungen
wie eine heftige Erinnerung
feine Äderchen auf der Oberfläche
Fingerabdrücke
als wäre eine Tonmasse
mit den Fingern in der Luft geknetet
modelliert geworden
nicht die Steine sehen
sondern die Transformationen
in und mit ihnen
so wie man sagt
die Sonne geht unter
und sich dabei
etwas ganz anderes denkt
die Konturen der Vulkankogel
weich schwingende Horizontlinie
hinter meinem Rücken
der Blick in die Ferne
durch das Auge des Malers gedacht
ich bleibe stecken
bei den Einschlüssen in den Meteoriten
mit dem schönen Namen Troiliten
den Olivinsteinen
und Widmanstädtschen Figuren
die schon der Engländer G.Thompson
bereits ein paar Jahre zuvor
entdeckt und beschrieben hat
Ein durchlässiges Gerüst
durch das der Wind pfeift
Allegorie der Vergänglichkeit
so wie Musik schon im Augenblick
des Erklingens verweht
im Flug durch das All geformt
kann man hier von einem Fall sprechen
ein Fund ist es nicht
etwas fällt auf die Erde
eine Kollision findet statt
chemische Prozesse setzen ein
aus einem Meteoriten wird ein Drache
was genau ist es
das diese Wirkung hervorgerufen hat
plötzlich der Gedanke
was hat ihn geweckt
einen messmerischen Tee trinkend
ich könnte
im kunsthistorischen Museum
die gemalten Bilder
Szenen der Mythologie
der biblischen Geschichten
auf darin vorkommende
und dargestellte Steine achten
Steine im Vordergrund
Felsformationen
und andere Steinbrüche
Giorgiones drei Philosophen
mit dem stufig abgetragenen Fels
den abgebröckelten Steinen
die eher Nüssen gleichen
das Auge mit der Nase
scheint in eine der Felsstufen
hinein gemeisselt zu sein
oder abgetragen und ausgewaschen
dass diese Ähnlichkeit aufscheint
andere Steine sind amorphe Klumpen
oder gleichen einem Brotlaib
Steine wie es bei den Mineralien
und Meteoriten gibt
entdecke ich nicht in der Malerei
die Steine im Bild
Büssende Maria Magdalena
von Orazio Gentileschi
ich denke sofort an die drei Steine
im Bild Ruhe auf der Flucht
von Caravaggio
die im Vordergrund
unterhalb der übereinander gelegten
Zehen des Josephs liegenden drei Steine
der spitze und der runde
und der aufgeblasene Stein
einen Stein zum Sprechen bringen
ich gehe durch die enge Gasse
bleibe stehen
hinter meinem Rücken Schritte
die ebenso plötzlich innehalten
wie ich selbst die meinen
zum Verstummen gebracht
ich nähere mich der Brücke
so wie andere Sätze schreiben
ohne zu merken
dass zwischen den Worten
die gewählt wurden und dem
was die Worte in Bewegung versetzen
etwas verloren geht
ich komme der Brücke näher
ohne sie zu erreichen
achtend auf die Umwege
in der Nähe der Brücke
das Wort Stein wirkt wie ein Frosch
im Sprung in den Satz
den ich ausradiere
um zu sehen wie er
ungeschrieben als Gelenk verwendet
daran hebelt wie eine Hühnerhaut
über meinen Rücken rast
vor dem Stockeisen
beim Stephansplatz stehend
nach den Szenen
hinter geschlossener Türe
verrät Apollon dem Schmied Vulkan
den Ehebruch seiner Frau
nach mehrmaligem Durchgang
vorbei an den Gemälden stosse ich
auf den Turmbau zu Babel
von Brueghel
ich bleibe stehen
plötzlich durchdringen sich
die Beobachtungen der Steine
und Meteoriten mit diesem Turmbau
der Blick schraubt sich von unten links
angefangen bei den steinhauenden
Figuren die als Repoussoir figurieren
hinein ins Gemälde
der König und sein Gefolge
mit einem Sprung setzt das Auge
den Weg fort am Fusse des Felsen
in den Eingänge gehauen werden
und springt über den
aus dem Felsen gehauenen Stufen
und den gemauerten Bögen
in einer spiralförmigen Bewegung
immer höher hinauf
eine Wolke wie ein Schnitt
durch die Spitze des Turmes
mit Akribie und enzyklopädischem
Interesse schildert Brueghel
eine Unmenge bautechnischer
und handwerklicher Vorgänge
in der steinernen Aussenhülle
vermischt er antike
und romanische Architekturelemente
Stufen Tore Bogen Fenster
gleichzeitig ist es eine
über den Felsen gebaute aufgesetzte
darüber gestülpte Architektur
eine Durchdringung von aufgesetzten
und herausgehauenen Formen
eine Gleichzeitigkeit von inneren
und äusseren Zuständen
eines Bauwerkes
bereits bewohnte Bereiche
und daneben der unbehauene Fels
das Unfertige
als wohnte der Blick einer Sezierung bei
Haut und Knochen
Muskel und Fleisch
Mantel Kern und Kruste zugleich
das führt zurück zu den Meteoriten
der Turmbau zu Babel
hat eine Ähnlichkeit mit einem Krater
was ist es das ihn unterscheidet
von der Botschaft aus dem All
frage ich mich
ich sehe wie es sich dreht
verschränkt und öffnet
fällt und verknotet
haltend und entfaltend
transparent machende Überschneidungen
Rillen und Falten
Lichter und Schatten
herausgelöst aus dem Zusammenhang
einer Erzählung
im Gegensatz zu den Frühwerken
ist die Figur fest umrissen
durchschaubar monumental
und symmetrisch platziert
vor Augen gestellt
wie der Stein im Kopf
Zeitschwingungen
im Hirnlabyrinth
ich erinnere mich an den Besuch
im Narrenturm in Wien
Gedanke und Ordnung
Pupille der Welt
von wo man Ausschau hält
ein von Überfällen bedrohter Ort
ein Sehen auf etwas hin
nicht den Gegner sehen
sondern die Taktik vorhersehen
er achtet auf etwas anderes als ich achte
was auf dem Weg
des zu Sehenden passiert
freilegen von Verschüttetem
ergänzen und rekonstruieren
entziffern und übersetzen
erschliessen der Ereignisse
aus der Vorzeit
Prozess der wechselseitigen Transformation
in dem das Konstruierte
und nicht das Rekonstruierte
eine Rolle spielt
Stein V oder das Gespräch
mit dem Meteoriten Buenaventura
der vom Turmbau zu Babel erzählt

 

 

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Rolf Winnewisser 2014

 

Ein Beitrag zum Steintag

Lydia Wilhelm

Tuesday, December 9th, 2014

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Lydia Wilhelm Umschichtung (Stein), Objekt, Buchseite, geschnitten, gefaltet, geleimt, 30,9 x 22,5 x 6 cm, 2014
 

Ein Beitrag zum Steintag

Ingrid Wiener

Tuesday, December 9th, 2014

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Ingrid Wiener Klangfarben, kolorierte Zeichnung mit Text, Neustift 3.11.2014

 

Ein Beitrag zum Steintag

Jan St. Werner

Tuesday, December 9th, 2014

Jan St. Werner/Lithops Every Detail’s Matter, 2014

Lithops means «living stone» referring to the first mention of the species by explorer and artist William John Burchell in 1811. This high speed video shows a Lithops growing a blossom. The music is by Jan St. Werner under his Lithops alias.

 

Ein Beitrag zum Steintag